Großstadtmission betreut Heranwachsende, die ihre Familien verlassen mussten. Nachbarn hatten Initiative gegen das Projekt gegründet.

Hamburg. Sie sind jetzt zu siebt. Fünf Jungs, zwei Mädchen. Manche lernen gerade Bügeln, manche erst einmal Deutsch. Lisa, die einen blonden Zopf und eine Zahnspange trägt, hat an die Tür ihres Zimmers ein selbst gemaltes Bild geklebt. Ein Herz hat sie darauf gemalt und einen Schlüssel, der ein gewaltiges Schloss aufschließt, sie hat ihren eigenen Namen auf das Herz geschrieben und daneben den des FC St. Pauli. Seit fast zwei Monaten wohnt sie nun hier. Neben ihrem Bett hängt eine Pinnwand mit einem Bild ihres kleinen Bruders, ihren Arztterminen, dem Stundenplan und einem Ausdruck ihres aufwendigen Schulwegs. Lisa ist 14 Jahre alt und muss nun einen großen Teil ihres Lebens selbst organisieren.

Sie ist eines der Kinder, die in der umstrittenen Wohngruppe in Sasel untergekommen sind. Das Haus liegt am Heideknick, eine grüne Einbahnstraße, von Einfamilienhäusern gesäumt. Als die Pläne für die Wohngruppe Anfang des Jahres bekannt wurden, zog Aufregung in die bis dahin ruhige Straße ein. Bis heute hat sich der Stadtteil nicht davon erholt.

Lisa und ihre Mitbewohner stammen aus "schwierigen familiären Verhältnissen", wie es offiziell heißt - Kinder und Jugendliche, die aus unterschiedlichen Gründen nicht in ihren Familien bleiben können. Mal haben sie Gewalt erfahren, mal Alkoholismus, mal ist das Verhältnis zu den Eltern einfach so zerrüttet, dass ein Zusammenleben nicht mehr möglich ist.

+++ Ein Kinderprojekt spaltet Sasel +++

"Problemjugendliche" haben einige Nachbarn in Sasel sie genannt und eine Bürgerinitiative gegen das Wohnprojekt gegründet. Sie sprechen von Drogen und Kriminalität, die das ruhige Wohngebiet erschüttern könnten. Sie fürchten um ihre Kinder, um die Grundstückspreise. Sie fürchten Lärm. Immer wieder verweisen sie auf einen Bebauungsplan aus den 1930er-Jahren, der die Gegend als besonders geschütztes Wohngebiet ausweist. Weil die Großstadt-Mission Altona als freier Träger mit der Wohngruppe Geld verdiene, sei das Projekt ein Gewerbe und hier nicht zugelassen. Man müsse nicht noch mehr Problemstadtteile schaffen. Zwei Eingaben hat die Bürgerinitiative eingebracht, die abgelehnt wurden. Im Juli hat sie Klage eingereicht.

Benedikt Pliquett, 27 Jahre alt, sitzt an einem Tisch in der Wohngruppe und ärgert sich. Er ärgert sich über die Anwohner und über das Bild, das sie nach außen tragen. Pliquett ist Torhüter des FC St. Pauli und als schwieriger Charakter bekannt, einer, der auch mal laut werden und gut damit leben kann, als unangepasst zu gelten. Er hat die Patenschaft für das Projekt übernommen, hin und wieder kommt er vorbei und unterhält sich mit den Kindern, vielleicht, sagt er, nehmen sie seine Tipps ein bisschen besser an als die anderer Erwachsener.

Es gibt zwei Dinge, die den Fußballer mit der Wohngruppe verbinden: Zum einen die Nachbarschaft. Pliquett, für viele die Verkörperung des ruppigen St. Pauli, wohnt seit eineinhalb Jahren nur eine Straße weiter. Er habe schon immer von einem Häuschen in dieser Gegend geträumt, sagt er. Die zweite Gemeinsamkeit: "Ich weiß, wie es ist, mit Vorurteilen zu leben. Immer wieder treffe ich auf Leute, die ein klares Bild von mir haben. Und die sind dann überrascht, wenn sie merken, dass ich eigentlich ein netter Kerl bin." Lisa hat erst etwas von der Unruhe um ihr neues Zuhause erfahren, als sie schon da war. Am Anfang sei es ein komisches Gefühl gewesen, sagt sie. "Aber inzwischen macht es mir nichts mehr aus."

Eine Nachbarin hat ihr und ihrer Mitbewohnerin Michelle einen Schminkkursus angeboten, auch kleine Kaninchen will sie ihnen zeigen. Zur Eröffnungsfeier der Gruppe kamen etwa 50 Anwohner, manche haben kleine Geschenke mitgebracht und Karten, auf denen "Herzlich willkommen" steht. Alles hat nun einen festen Platz im Wohnzimmer der Gruppe.

Der Protest ist leiser geworden, aber der Kontakt ist bisher reduziert. Die Wohngruppe steht noch ganz am Anfang. "Wir wollen mehr auf die Nachbarn zugehen", sagt Projektleiter Manuel Kappernagel, "aber momentan haben wir einfach zu viel um die Ohren." Die Gruppe muss sich noch finden, die Kinder müssen sich erst eingewöhnen.

Die drei neuesten Mitbewohner kamen vor zwei Wochen an, Flüchtlinge aus dem Iran. Sie haben einen langen Weg hinter sich: schmale, höfliche Jungs, die gutes Englisch sprechen, deutsche Sätze büffeln und sich freuen, endlich wieder zur Schule gehen zu können.

Der 14-jährige Mohammad brennt vor allem für Biologie, er möchte einmal Zahnarzt werden. Ali, ebenfalls 14, interessiert sich eher für die Motorik: Er will einmal etwas mit Mechanik machen, um mit Autos arbeiten zu können. Beide haben es auf Anhieb aufs Gymnasium geschafft. "Da hatten wir alle ein bisschen Pipi in den Augen", sagt Kappernagel.

Sieben Plätze sind schon voll, eine Betriebserlaubnis hat die Wohngruppe für acht. Ein Platz ist noch frei.

Öffentlich äußern möchte sich die Bürgerinitiative übrigens nicht mehr.