Berit Lüdemann hat lange gebraucht, bis sie ihren Traumberuf fand: Heute leitet sie die Zirkusschule in Jenfeld. Der Job ist ihre Lebensaufgabe.

Hamburg. Julian ist trotzdem da. Er baut sich vor Berit Lüdemann auf und berichtet stolz, dass er sich gegen seine Mutter durchgesetzt hat. Die fand nämlich, dass Julian nicht mehr in die Zirkusschule gehen sollte. Die vielen Unterrichtsstunden in der Grundschule, die Hausaufgaben, der Kampfsport. Zu viel für einen Siebenjährigen.

Jetzt steht Julian hier und erzählt, dass er seiner Mama erklärt hat, dass er weiterhin in die Zirkusschule will. Zu Berit. Seinen Vater hatte er irgendwann auf seiner Seite. "Dann hab ich meine Mama überzeugt", sagt Julian.

Er dreht sich um und rennt in den Requisiten-Keller. Zusammen mit den anderen Kindern holt er Stelzen, Einräder, Kugeln, Bälle, Keulen, Tücher und Teller. Es ist halb fünf an diesem Nachmittag, und der Zirkus geht los. Die Manege ist der Veranstaltungssaal des Jenfeld-Hauses - eine Mischung aus Bühne und Sporthalle, helles Parkett, große Fenster. Sonst finden hier Theaterproben, Senioren-Gymnastik oder die Stadtteilkonferenz statt.

15 Kinder sind gekommen. Ihre Lehrerin ist eine sehr füllige Frau mit Brille und freundlichem Lächeln. Auf den ersten Blick erscheint Berit Lüdemann nicht wie eine Zirkus-Trainerin. Aber der Schein ist nicht das Sein - und nirgends gilt das mehr als im Zirkus. Jeder kann auf der Bühne glänzen. Berit Lüdemann, 44, Single, keine Kinder, hat hier im Hamburger Osten ihren Traumberuf gefunden. Es hat lange gedauert.

Die Zirkusschule im Jenfeld-Haus gibt es seit zwölf Jahren. Kinder im Alter zwischen sechs und 13 Jahren lernen hier, wie man auf dem Seil tanzt und auf dem Einrad fährt. Sie lernen noch viel mehr: wie man an sich selbst arbeitet, wie man Niederlagen einsteckt und mit anderen im Team arbeitet. Die Kinder aus der Zirkusschule kommen nicht nur aus Jenfeld, sondern auch aus den umliegenden Stadtteilen. Sechs Euro kostet ein Nachmittag.

Selin, 7, ist an diesem Nachmittag zum ersten Mal da. Ihre Freundin Ella hat sie mitgebracht. "Mach bitte nichts alleine", sagt Berit Lüdemann zu ihr. Wenig später steht Selin vor einem aufgespannten Seil. "Schau immer auf das Ende des Seils", sagt die Trainerin. Das Mädchen soll die Arme ausbreiten und sie wie eine Balance-Stange nutzen. "Und wenn ich runterfalle?", fragt Selin. "Du fällst nicht runter." Selin traut sich auf das Seil, ihre Zehenspitzen ertasten es, sie arbeitet sich langsam vor. Selins weit aufgerissene Augen haften auf dem Seil, ihre kleinen Knie zittern, aber sie hält sich. "Zunge rein! Sonst beißt du sie dir ab", ruft Berit Lüdemann, sie hat die Hand ausgestreckt, damit sich Selin abstützen kann. Dann nimmt sie die Hand weg. Und Selin läuft alleine weiter.

Berit Lüdemann wollte früher Erzieherin in einem Kindergarten werden. Weil sie immer schon gut mit Kindern konnte. Doch bei der Berufsberatung sagten sie ihr, dass die Chancen auf eine feste Anstellung schlecht seien. Und so machte sie es nicht. Die Suche nach einer sinnvollen Arbeit begann.

"Berit! Der Hut mag mich nicht!" Der achtjährige Jost will den gelben Strohhut so in die Luft werfen, dass er wieder zu ihm zurückkommt und er ihn fangen kann. Aber der Hut fliegt quer durch den Kinderzirkus, und Jost wird langsam böse. "Er kommt nicht zurück", wettert er. Berit Lüdemann rät ihm, etwas ruhiger an die Sache heranzugehen, er soll den Hut werfen wie eine Frisbee-Scheibe. Doch Jost ist zu ungeduldig, er zielt zu weit nach rechts, der Hut fliegt weg.

+++ Zirkusschulen in Hamburg +++

Damals, als Berit Lüdemann nicht wusste, was sie beruflich machen wollte, ging sie erst mal für ein halbes Jahr nach Australien, dann für zehn Monate in die USA, als Au-pair. Der Kontakt mit Menschen aus aller Welt gefiel ihr, und so machte sie nach ihrer Rückkehr nach Hamburg eine Lehre zur Hotelfachfrau. Doch ihren ersten Job warf sie nach kurzer Zeit hin - zu ruppig war ihr das Betriebsklima in der Hotel-Branche.

Sie wollte auf Weltreise gehen, doch dafür brauchte sie Geld. Sie jobbte als kaufmännische Aushilfskraft und bei einem Pizza-Service. Dann reiste sie. Zurück in Hamburg arbeitete sie als Sekretärin. Nach vier Jahren wurde sie entlassen. Ihr Chef meinte, dass sie nicht seinen Anforderungen entspreche. "Ich kündige Ihnen!", schrie er in einem cholerischen Anfall, danach bekam sie den Rausschmiss auch noch schriftlich. Berit Lüdemann war ein Jahr lang arbeitslos. Sie weiß, wie es sich anfühlt zu scheitern. Aber sie weiß auch, dass es danach weitergeht.

Jost hat an diesem Nachmittag doch noch sein Erfolgserlebnis. Auf dem Trapez. "Mach mal das X", sagt die Zirkus-Chefin, Jost hängt sich in die Seile und streckt Arme und Beine links und rechts zur Seite. "Lächeln nicht vergessen!", sagt die Trainerin, Jost setzt ein breites Grinsen auf. Mit einer Rolle rückwärts landet er auf der Matte. Und verbeugt sich.

Berit Lüdemann hat sich damals nach ihrer Entlassung dafür entschieden, ihr Hobby zum Beruf zu machen: Jonglieren. Ende der 80er-Jahre hatte sie im Stadtpark einen jungen Mann gesehen, der mit drei Bällen jonglierte. Das wollte sie auch. Wenn sie jongliert, dann ist ihr Körper ganz ruhig, ihre Hände fliegen, alles läuft intuitiv, sie muss nicht auf die Keulen schauen. Denn es kommt auf die richtige Wurftechnik an, sagt sie. Lüdemann jongliert nicht nur mit Bällen und Keulen, sondern auch mit Hüten. Sie erfuhr damals, dass es eine große weltweite Jonglier-Szene gibt, also fuhr sie zu den Treffen. Sie sah, dass man aus Jonglieren Comedy machen kann, das Jonglieren in Sketche einbauen kann. Sie überlegte sich ein Konzept. "Ich brauchte eine Figur für meine Figur", sagt sie. Mit ihrem Körpergewicht geht sie selbstbewusst um, aber dennoch scheint das Thema sie zu beschäftigen.

Sie erfand damals "Klotilde", die jonglierende Klo-Frau. "Klotilde" jongliert mit Klorollen, Klobürsten, Besen, Pümpeln und Klobrillen. Sie lernte in Kursen bei der Arbeitsagentur, wie man damit Geld verdienen kann. Lüdemann tritt auf Betriebsfeiern und auf Straßenfesten auf. Bei einem Auftritt vor vier Jahren lernte sie den Gründer der Jenfelder Zirkusschule kennen. Der fragte sie, ob sie mit Kindern arbeiten wolle. Seit einem Jahr leitet sie die Zirkusschule.

Bei den Kindern ist Lüdemann beliebt, auch wenn sie nicht selbst auf das Seil steigt und sich ans Trapez hängt. Das kann sie nämlich nicht. Aber wie man es anderen beibringt, das hat Lüdemann von ihrem Vorgänger gelernt und in Büchern gelesen. Wenn eines der Kinder Hilfe braucht, ruft es nach ihr. So wie Selin, die heute bei ihrer Premiere auch noch lernen will, wie man auf einem großen Ball balanciert. Berit Lüdemann hat ein Seil zwischen zwei Stangen gespannt, an dem sich Selin festhalten kann. Schon nach zwei Minuten steht das Mädchen auf der Riesenkugel und dreht sich zu seiner Freundin Ella um. "Du hast gesagt, ich kann das nicht. Natürlich kann ich das!"

Doch es gibt nicht nur Triumphgeheul an diesem Nachmittag. Die achtjährige Finni fängt plötzlich an zu weinen. Schnell ist Lüdemann bei ihr. "Was ist passiert?" Finni sagt, dass ihre Mama noch nicht da sei, um sie abzuholen. Sie habe Angst, dass ihr etwas passiert sei. Sie schluchzt. "Wir haben doch noch Zeit bis zum Ende der Stunde", sagt Lüdemann, sie nimmt Finni in den Arm, streichelt sie. Es dauert einige Minuten, bis sich das Mädchen beruhigt. Berit Lüdemann weiß, dass Jenfeld ein sozialer Brennpunkt ist. Es gibt viele traurige Kinder hier. Und seit 2005, als die siebenjährige Jessica starb, weil ihre Eltern sie verhungern ließen, ist der Stadtteil berüchtigt. Auf den Spielplätzen zwischen den Plattenbauten im Osten Jenfelds lungern Jugendliche herum, saufen, kiffen. Das ist das eine Jenfeld, das Klischee-Jenfeld. Doch es gibt auch das andere Jenfeld: hübsche Einfamilienhaus-Siedlungen, in denen Akademiker-Familien leben. Es entstehen Neubau-Siedlungen für junge Familien. Und es gibt mehrere Einrichtungen wie das Jenfeld-Haus, wo sich die Jenfelder begegnen können, wo Stadtteilentwicklung stattfindet. Die Kinder, die in die Zirkusschule kommen, stammen aus all diesen Teilen Jenfelds.

Da war der Junge in ihrer Zirkusstunde, der plötzlich so aggressiv zu anderen Kindern war. Als sie ihn fragte, was mit ihm los sei, fing er an zu weinen. Und erzählte, dass seine Mutter Alkoholikerin sei und sein Vater im Knast, und dass seine geliebte Oma, bei der er aufwuchs, jetzt Krebs im Endstadium habe. Lüdemann sagt, sie habe versucht zu trösten. Als sie abends in ihre Barmbeker Wohnung kam, weinte sie. Der Zirkus kann keine sozialen Probleme lösen. Aber er kann seine großen und kleinen Artisten zumindest für eine kurze Zeit aus ihrem Alltagsfrust herausholen.

Die Zirkusschule wurde mit finanzieller Unterstützung des Bezirks Wandsbek gegründet, und auch heute noch wird sie gefördert. Wenn eins der Kinder die sechs Euro für die Stunde nicht zahlen kann, wartet Lüdemann, bis die Eltern wieder Geld haben.

Draußen, vor dem Zirkussaal, im Foyer des Jenfeld-Hauses, sitzen die Eltern der Kinder, durch die Fensterscheibe können sie hineinschauen. Ute Schneider beobachtet ihre Tochter Malina, die Einrad fährt und vorhin gesagt hat, dass sie alles kann außer Jonglieren. "Das ist nämlich langweilig." Ute Schneider sagt, dass ihr Sohn schon viele Jahre hier war.

In der Schule wurde er gemobbt. In der Zirkusschule lernte er Jonglieren, er bekam Anerkennung und neues Selbstbewusstsein. Bei der zehnjährigen Malina sei es ähnlich: In der Schule fühle sie sich nicht wohl. In der Zirkusschule schon. Die anderen Eltern, die an diesem Nachmittag hier sind, finden es toll, dass die Kinder sich gegenseitig unterstützen, dass Freundschaften entstehen.

Finni ist wieder gut drauf, weil ihre Mutter jetzt da ist. Das Mädchen stellt sich auf die große Kugel und schafft es, darauf stehen zu bleiben, ganz ruhig. "Das kann nicht jeder", sagt sie. "Das kann nur ich." Berit Lüdemann redet viel mit den Eltern. Und so weiß sie auch, dass viele der Kinder überfordert sich.

Ursprünglich hat sie ihren Kurs um 14.30 Uhr angeboten, doch nur drei Kinder kamen. Wegen der Schule. Auch 16.30 Uhr schaffen viele Kinder nicht. Lüdemann findet, dass viele Kinder fast so viel arbeiten müssen wie Erwachsene. Und dass sie kaum Zeit für sich haben.

Dabei ist doch Zirkus Kreativität, Verrücktheit, Grenzerfahrung. Deshalb lässt sie die Kinder auch machen. Und gerade deshalb macht es ihr selbst so großen Spaß. Im Juni will sie mit ihren kleinen Künstlern im Jenfeld-Haus auftreten, im August plant sie einen Ausflug auf einen Kinderbauernhof, den Eintritt sollen sich ihre Artisten mit einer kleinen Zirkus-Aufführung selbst verdienen.

Am Ende der Stunde kann Julian, der so dafür gekämpft hat, hier zu sein, auch auf der großen Kugel stehen. Zwar braucht er noch das Sicherheitsband, aber nächste Woche vielleicht schon nicht mehr. Und auch über das Seil gehen kann er schon fast alleine.

Die Kinder räumen gemeinsam auf, das ist eine von Lüdemanns Regeln. "Tschüs, Berit!" Per Handschlag verabschieden sie sich. "Die Kinder mögen mich einfach. Vielleicht, weil ich selbst noch ein Kind geblieben bin", sagt Berit Lüdemann. Wenn sie bei ihren Kindern ist, lacht sie häufig. Sie sagt, dass sie am liebsten nur mit den Kleinen arbeiten würde. Doch das Geld, das ihr der Job als Zirkustrainerin und "Klotilde" bringt, reicht nicht zum Leben. Für eine Marktforschungs-Firma reist Lüdemann durch Norddeutschland und erhebt in Geschäften Daten über Produkte und deren Absatz.

Wenn sie neue Leute kennenlernt, sagt sie, dass sie Kinderzirkus-Trainerin und Jongleurin sei. Und auch in der Marktforschung arbeite. In dieser Reihenfolge. Fremde Menschen schauen sie dann ungläubig an. "Man sieht es mir ja nicht so an aufgrund meiner Körperfülle", sagt Lüdemann. Was sagen denn die Kinder? "Dass ich so dick bin? Das ist den Kindern egal."