Das Gute in Krisen zu suchen: Es ist eine Frage der Haltung, ob wir unsere Aufmerksamkeit auf Positives oder Negatives lenken.

Natürlich bedanken wir uns für ein Geschenk oder einen Gefallen. Aber Dankbarkeit kann noch viel mehr sein als eine höfliche Formel: eine grundsätzliche Haltung. Kürzlich hörte ich ein Interview mit der Bestsellerautorin Rhonda Byrne. Sie sagt jeden Morgen, bevor sie aus dem Bett steigt: „Danke, danke, danke.“ Nun ja, dachte ich, das würde ich auch tun, wenn sich meine Bücher millionenfach verkaufen.

Zum Glück erkannte ich schnell, dass ich damit voll in die Falle gelaufen war: Wir heben unsere Dankbarkeit meist für spektakuläre Anlässe auf, so in der Größenordnung Beförderung, Urlaubsreise, Steuerrückzahlung. Dabei gibt es jeden Tag viele kleine Anlässe zur Dankbarkeit. Dass wir die übersehen und unsere Aufmerksamkeit stattdessen auf negative Dinge richten, liegt an unserem genetischen Schutzprogramm. Für das Überleben unserer Spezies war es nötig, Gefahren zu erkennen. Bis heute gilt deshalb: „Schlechtes wirkt stärker als Gutes.“

Thema im Fokus der Wissenschaft

Kein Wunder also, dass wir Dankbarkeit als Einstellung erst lernen müssen. Tatsächlich ist das Thema seit einigen Jahren im Fokus der Wissenschaft. Einer der führenden Forscher auf diesem Gebiet ist der US-Psychologieprofessor Robert Emmons. Mit einem Experiment wollte er herausfinden, was es bringt, Dankbarkeit zu kultivieren.

Dazu führten Versuchspersonen zehn Wochen lang Tagebuch, allerdings mit unterschiedlicher Anweisung: Eine Gruppe musste jeweils fünf positive Dinge aufschreiben, die sich in der Woche zugetragen hatten und für die sie dankbar war. Die andere Gruppe sollte fünf Schwierigkeiten nennen, die sie zu bewältigen hatte. Auf der Liste der Dankbarkeitsgruppe fanden sich Notizen wie „Ein schöner Sonnenuntergang“. Die Problemgruppe zählte Ärgernisse auf, etwa „Man findet so schwer einen Parkplatz“.

Dankbare sind zufriedener mit ihrem Leben

Die Auswertung ergab einen deutlichen Gewinn der Dankbarkeitsgruppe. Die Dankbaren fühlten sich um 25 Prozent glücklicher. Sie empfanden eine höhere Zufriedenheit mit ihrem Leben. Außerdem hatten sie weniger gesundheitliche Probleme als die Teilnehmer der anderen Gruppe, sie waren entspannter und schliefen besser. Von Außenstehenden wurden sie als hilfsbereiter und sozialer eingeschätzt. Weitere Studien bestätigten dieses erstaunlich gute Ergebnis.

Daraus lässt sich das Fazit ziehen: Es lohnt sich, den Blick auf die Ereignisse im Alltag zu lenken, für die wir dankbar sein können. Ein wirkungsvolles Hilfsmittel ist ein Dankbarkeitstagebuch. Legen Sie einen Kalender und einen Stift neben Ihr Bett. Lassen Sie vor dem Schlafengehen den Tag Revue passieren, aber nur mit Fokus auf die guten Dinge. Tragen Sie die mit Stichworten ein. Sie werden staunen, wie das im Laufe der Zeit Ihre Stimmung hebt.

Bei einem Unglück ist es schwer, positiv zu bleiben

Mit etwas Disziplin und festem Willen funktioniert Dankbarkeit sicher problemlos – solange es uns gut geht. Schwierig ist es jedoch, wenn uns das Leben übel mitspielt. Die möglichen seelischen und körperlichen Beeinträchtigungen sind vielfältig: Krankheit, ein Unfall, chronische Schmerzen, finanzielle Sorgen, Probleme in der Partnerschaft oder der Familie, eine Trennung, der Tod eines nahestehenden Menschen, ein Pflegefall, Einsamkeit, berufliche Veränderungen – die Unglücksliste lässt sich beliebig verlängern. Da stellt sich garantiert keine Dankbarkeit ein. Vielmehr sind wir verzweifelt, traurig oder deprimiert. In solchen Zeiten dankbar zu sein ist in jedem Fall eine besondere Herausforderung. Und doch kann es gerade die Dankbarkeit sein, die uns die Situation erträglich macht und unsere Stimmung verändert.

Wir können uns fragen, ob das schlimme Ereignis nicht doch auch etwas Gutes enthält. Das klingt vielleicht zunächst zynisch, ist aber eine wirksame Methode, aus der Verzweiflung herauszukommen und am Ende sogar Dankbarkeit zu empfinden. Wenn es Menschen gelungen ist, in den Lebensveränderungen nach einem erlittenen großen Unglück etwas Positives zu entdecken, dann haben auch wir eine Chance, das zu schaffen.

Behinderter Palliativmediziner macht Mut

Beeindruckt hat mich ein Interview mit dem Palliativmediziner Bruce Miller, der seit seiner Jugend durch einen Unfall schwerbehindert ist. Als Student war er mit zwei Freunden aus Jux auf das Dach eines Zuges gestiegen. Er geriet an die Oberleitung, die Tausende Volt durch seinen Körper jagte. Seitdem fehlt ihm sein linker Oberarm und er trägt zwei Beinprothesen. Heute arbeitet Miller in einem Hospiz in San Francisco und setzt sich dafür ein, Sterbenden ein friedliches Ende zu ermöglichen.

Er sagt: „Durch den Unfall lernte ich, dass mein persönliches Glück nicht von zwei funktionierenden Beinen abhängt. Und dass selbst im Unglück Chancen liegen.“ So sieht Bruce Miller sogar in seiner Behinderung einen Vorteil im Umgang mit seinen Patienten: „Sie erleichtert mir häufig den Zugang zu ihnen. Patienten öffnen sich mir schnell, weil sie mich sehen und denken: Der weiß, wie sich Schmerzen anfühlen. Für meinen Job ist dieser Körper ein Geschenk.“

Nach Krisen ist man oft glücklicher

Durch einen anderen Blick auf das schmerzliche Ereignis verändert sich unsere Perspektive. Wir erkennen, dass unser persönliches Drama nicht nur schrecklich ist. Es gibt uns auch eine Gelegenheit zur persönlichen Entwicklung, die wir in guten Zeiten niemals bekommen hätten. Dass Dankbarkeit gerade in Krisen wertvoll ist, bestätigen auch die Untersuchungen des kanadischen Journalisten Robert Blondin, auf die ich im Rahmen meiner Doktorarbeit über Glücklichsein stieß.

Blondin hat international Menschen interviewt, die sich selbst als glücklich bezeichneten. Das waren erstaunlicherweise nicht die Schönen, Reichen oder Gesunden, sondern diejenigen, die Krisen bewältigt hatten und daran gewachsen sind. Offenbar stimmt die Erkenntnis des englischen Philosophen Sir Francis Bacon: „Nicht die Glücklichen sind dankbar. Es sind die Dankbaren, die glücklich sind.“

Die Autorin ist Hamburgerin, Diplom-Psychologin, Buchautorin und betreibt einen Youtube-Kanal „Dr. Wlodarek Life Coaching“, der mehr als 200.000 Abonnenten hat.