175 Jahre Pestalozzi-Stiftung: Arthur und Robert Friedrich unterstützen die Hamburger Einrichtung mehr als ein halbes Jahrhundert.

In Wohldorf und Ohlstedt kannte man die sieben Geschwister nur als „die rasenden Friedrichs“, weil sie morgens nur im Laufschritt zu sehen waren. „Wir gingen alle auf das katholische St.-Ansgar-Gymnasium in Borgfelde“, erinnert sich Robert Friedrich (71). „Von unserem Elternhaus zur U-Bahn Ohlstedt war es eigentlich eine halbe Stunde Fußweg. Wir haben aber gerne noch etwas länger geschlafen und haben den Weg dann in acht Minuten geschafft und nie eine Bahn verpasst.“

Innerhalb der großen – und schnellen – Geschwisterschar waren zwei Brüder von Anfang an besonders verbunden: Robert und sein ein Jahr älterer Bruder Arthur. Vieles stellten sie gemeinsam an und noch mehr stellten sie gemeinsam auf die Beine. Eines zieht sich seit über 50 Jahren durch ihr Leben: Ihre Verbundenheit mit der Pestalozzi-Stiftung Hamburg. Seit ihrer Jugend sind die Brüder Friedrich ehrenamtlich für die soziale Organisation aktiv, die gerade diese Woche ihr 175-jähriges Bestehen mit einem Festakt feierte. Sie fingen als junge Nachhilfelehrer im Kinderheim der Stiftung an und sind mittlerweile beide Mitglieder des Verwaltungsrats. Außerdem haben sie einen Freundeskreis der Stiftung ins Leben gerufen, dem sie auch vorsitzen.

Kontakt zum Pestalozzi-Kinderheim

Das Engagement wurde den Friedrich-Brüdern schon zu Hause vorgelebt: Mutter Helga Friedrich hatte, als vor 60 Jahren im nahen Bergstedt das Senator-Neumann-Heim eröffnet wurde, in dem Menschen mit schweren und Mehrfachbehinderung betreut werden, eine Gruppe von freiwilligen Helferinnen gegründet, die die Arbeit mit den Bewohnern unterstützt. Diese Gruppe gibt es bis heute. Das Pestalozzi-Kinderheim kannten Arthur und Robert, weil sie in der Nähe wohnten und Kontakt zu den Kindern dort hatten.

Schon immer teilen die Brüder Arthur und Robert eine Macher-Mentalität. Als Jugendliche gründeten sie in ihrer katholischen Gemeinde eine christliche Pfadfinder-Gruppe, die alsbald Gutes in der Gegend tat, auch dann und wann im Pestalozzi-Heim. „Eines Tages sprach mich dann ein Erzieher an, ob ich nicht Lust hätte, den Kindern im Heim Nachhilfe-unterricht zu geben“, erinnert sich der 72-Jährige Arthur, „und ich habe Ja gesagt.“

Von 1930 bis 2013  war das Haus an der Diestelstraße Heim der Pestalozzi-Stiftung Hamburg,
Von 1930 bis 2013  war das Haus an der Diestelstraße Heim der Pestalozzi-Stiftung Hamburg, © HA | Pestalozzi-Stiftung

Das Kinderheim in der Diestelstraße war damals noch das einzige Haus, das die 1847 gegründete Stiftung unterhielt. 40 Kinder lebten dort, die aus verschiedenen Gründen nicht in ihren Familien bleiben konnten. Gemäß den Grundsätzen des Schweizer Reformpädagogen Johann Heinrich Pestalozzi sollten die in ihren Fähigkeiten gestärkt und zu mündigen Bürgern herangebildet werden.

Außer Mathe und Deutsch auch Fußball

Schulisch hatten viele von ihnen aber aufgrund ihrer Vorgeschichten Rückstände, die die Heimerzieher nicht allein ausgleichen konnten. Hier kamen die Friedrich-Brüder ins Spiel. „Zweimal in der Woche kamen wir für drei Stunden in das Kinderheim“, erinnert sich Robert Friedrich. „Wir halfen jedem Kind, das dies brauchte, jeweils eine halbe Stunde in Mathe oder Deutsch, dann kam das nächste Kind. Worauf wir besonders stolz sind: Einige unser Nachhilfeschüler haben die Versetzung auf das Gymnasium geschafft. Das war damals bei Heimkindern nicht üblich.“

Nach dem Unterrichtsblock ging es mit den Kindern auf den Heim-eigenen Bolzplatz. „Das war den Kindern ganz wichtig, aber wir haben uns mindestens genauso auf die Fußballeinheit gefreut“, sagt Robert Friedrich. „Wir wollten zeigen, dass das Leben nicht nur aus Ernst besteht, sondern man auch Spaß haben sollte.“

Eine Gesellschaft der Zukunft

Auch damit setzten die beiden ein Pestalozzi-Prinzip um, wahrscheinlich, ohne es damals zu wissen. Die auf Selbstermächtigung der Menschen ausgerichtete Pestalozzi-Pädagogik hatte es den Stiftungsgründern nicht von ungefähr angetan: 1847 war ein Jahr vor der deutschen Revolution und fünf Jahre nach dem großen Brand von Hamburg. Eine Gesellschaft der Zukunft, die von engagierten Bürgern getragen sein sollte, brauchte vor allem eines: mündige Bürger. Doch während wenige Jahre nach dem Brand die wohlhabenden Hanseaten schon wieder in prächtigen Häusern wohnten, breitete sich bei den Ärmeren das Elend aus. Mündigkeit war ihre geringste Sorge.

Die Hamburger „Loge zur Brudertreue“ nahm, obwohl sie aus wohlhabenden Logenbrüdern bestand, diese Diskrepanz wahr und ernst. Wenigstens die bedürftigsten Kinder aus der Armenschicht sollten eine Chance erhalten. Zum Bau und Betrieb eines Kinderheims nach Pestalozzis Grundsätzen gründeten die Logenbrüder die Pestalozzi-Stiftung Hamburg. Noch im selben Jahr eröffnete das Heim. Der damalige Standort war in Billwerder. Im Lauf der Jahrzehnte zog das Pestalozzi-Heim mehrfach um – nach Barmbek, nach Volksdorf und schließlich, 1930, nach Ohlstedt. Das dritte Reich überlebte das Heim, das weiter freigeistige Ideen verfolgte und sich nicht in die restriktive „schwarze Pädagogik“ der Nazis einbinden lassen wollte, nur knapp.

Mit der Pfadfindergruppe ins Heim

Dies war das Heim, das die Friedrich-Brüder kennenlernten. Solange sie studierten – Arthur Medizin und Robert Informatik – gaben die beiden Brüder Nachhilfe im Pestalozzi-Heim. Arthur wechselte gleich nach dem Studium in ein festes Ehrenamt im Verwaltungsrat der Stiftung. Robert nahm Ehrenämter in anderen Institutionen an, blieb dem Heim und der Stiftung aber auch weiter verbunden – unter anderem über die Pfadfindergruppe, der bald auch seine Kinder angehörten und mit der er und Arthur regelmäßig halfen, die Sommerfeste des Heims zu organisieren. Auch Robert trat eines Tages dem Verwaltungsrat der Stiftung bei. Das war 1994. Arthur hatte einen Posten als Chefarzt in Rendsburg angenommen und konnte sich nicht mehr in dem Maß in Hamburg engagieren wie vorher. Das sollte nun sein Bruder tun.

Die Stiftung war damals im Umbruch: Die Stadt brachte Jugendliche nicht mehr in Heimen, sondern in Wohngruppen unter. Auch die Pestalozzi-Stiftung war Träger mehrerer solcher Wohngruppen und ist es bis heute. In dem Heim an der Diestelstraße betreute sie nun Menschen mit geistigen Behinderungen und seelischen Gebrechen.

Mehr als 500 Mitarbeitende hat die Stiftung heute

Aus einem Verein, der ein Kinderheim betreute, wurde ein allgemeiner pädagogischer Dienstleister für die Freie und Hansestadt Hamburg. „Uns beeindruckt es immer wieder, zu sehen, wie vielfältig das Angebot geworden ist“, sagt Robert Friedrich. „Die Stiftung betreut Kinder und Jugendliche in Wohngruppen, unterhält Kindertagesstätten und Jugendzentren, gibt Menschen mit geistigen und seelischen Beeinträchtigungen Assistenz im Alltag und im Arbeitsleben.“ Mehr als 500 Menschen arbeiten jetzt für die Pestalozzi-Stiftung und das Wohl der Betreuten.

Ehrenamtlich wird die Stiftung deshalb nicht mehr geführt. Seit rund 30 Jahren gibt es eine professionelle Geschäftsführung. Das bedeutet aber nicht, dass der Verwaltungsrat überflüssig ist.

Kinder-Projekt: Hamburg auf Kniehöhe

Trotzdem haben sich die Friedrichs ein weiteres Ehrenamt auferlegt, indem sie einen Freundes- und Förderverein gegründet haben. „Es gibt so viele bemerkenswerte Projekte in der Stiftung, die besonders gefördert werden müssen“, sagt Arthur Friedrich. „Durch den Förderverein lernen wir sie alle erst kennen. Das hilft auch bei der Verwaltungsratstätigkeit.“

So spendete der Förderverein Kinderkameras für das Kita-Fotoprojekt „Hamburg aus Kniehöhe“ und bezuschusste das Bilderbuch „Vielfaltfantastisch“, in dem die Kita-Maskottchen „Atik“ und „Lozzi“ Abenteuer erleben. Auch das Projekt „Lecker hoch drei – Dinners för Kinners“ ist den Friedrichs eine Herzensangelegenheit: Es ist auf der einen Seite ein Beschäftigungsprojekt für Menschen mit geistigen und psychischen Beeinträchtigungen. Auf der anderen Seite dient es dazu, die eigenen Tagesstätten – und mittlerweile auch Drittkunden – mit gesundem Essen zu versorgen. Die Mahlzeiten werden von den Beschäftigten vorgegart, eingefroren und ausgeliefert und in den Kitas und an anderen stellen fertiggegart. Schirmherr ist Steffen Henssler.

Reling ist das neuest Projekt

Das neuste geförderte Projekt ist „Reling“, ein niederschwelliges Angebot für Menschen in Notlagen, die entweder durch das Raster der Hilfesysteme fallen oder die schnell Orientierung in diesem Raster brauchen.

Das Haus an der Diestelstraße hat die Stiftung mittlerweile aufgegeben. Es entsprach nicht mehr den Anforderungen an inklusive Betreuung im eigenen Wohnraum. Diese Klienten betreut die Pestalozzi-Stiftung in eigenen Apartments in einem Haus, das immer noch in Ohlstedt liegt – allerdings viel näher an der U-Bahn.