Hamburg. An der Louise Schroeder Schule startet „sit’n’skate“ ein Pilotprojekt, um Schüler im Umgang mit ihrem Rollstuhl zu trainieren.

David ist versteinert. Das hat der Zauberer gemacht. David sitzt also unbeweglich in seinem Rollstuhl und wartet darauf, dass die Fee kommt und ihn mit einer Berührung wieder beweglich zaubert. Ist aber gar nicht so einfach für die Fee – das ist gerade Lina – zu David durchzukommen. Weil da ja noch die Gehilfen des Zauberers sind und versuchen, Lina davon abzuhalten. Das ist ein Düsen und Fahren und Stoppen und Sprinten, links, rechts, geradeaus – alles im Rollstuhl und offenbar mit ganz viel Spaß.

„Das ist ein ziemlich cooles Bewegungsspiel, bei dem die Kinder wie nebenbei lernen, ihren Rollstuhl zu beherrschen“, erklärt Jens Naumann. Der Sonderpädagoge sitzt auch im Rollstuhl, also jetzt, in diesem Moment. Er ist im normalen Leben Fußgänger, begibt sich aber auf Augenhöhe mit den Kids in der Gruppe und zeigt ihnen auch Tipps und Tricks, wie sie ihr Gefährt noch besser beherrschen können.

Projekt findet immer dienstags statt

Wir sind in der Sporthalle der Louise Schroeder Schule in Altona. Hier startet nach den Sommerferien erstmals in Hamburg ein Trainingsangebot für Rollstuhl fahrende Schüler und Schülerinnen. Jeden Dienstag zwischen 8 und 9.40 Uhr wird die Halle dann zum sportlichen Tummelplatz für Kinder, die durch irgendeine Einschränkung nicht am normalen Sportunterricht teilnehmen können.

Die Idee zu dem Projekt hatte David Lebuser, der gerade versteinert in der Halle sitzt. Lebuser ist so etwas wie ein Vorzeige-Rollstuhlsportler im Freestyle-Bereich. Der 35-Jährige, der seit einem Unfall mit 21 Jahren querschnittsgelähmt ist, kann mit seinem Rollstuhl sensationelle Tricks und Bewegungen anstellen. Er war der erste professionelle deutsche Rollstuhlskater überhaupt, kann sich Halfpipes herunterstürzen und waghalsige Sprünge zeigen. Mit seinem Unternehmen „sit’n’skate“ bringt er seit Jahren in Workshops interessierten Rollifahrern seine Moves bei. In Hamburg regelmäßig in Eidelstedt, in Allermöhe und Wilhelmsburg zum Beispiel. Aber diese Sportler sind älter und nicht jeder kann dahin kommen.

Mehr Sicherheit mit dem Rollstuhl

„Wir haben gedacht, wir sollten also zu den Kindern kommen, wenn die nicht zu uns kommen können“, erklärt Lebuser den Ursprung der Idee. „Ziel ist es, den Schülerinnen und Schülern mehr Sicherheit und Mobilität für ihren Alltag zu vermitteln.“ David ist zwar im Besitz eines Übungsleiterscheins, für das pädagogische Konzept ist jedoch Jens Naumann zuständig, „wir ergänzen uns sehr gut, passen als Team sehr gut zusammen.“

Sie haben das Konzept erarbeitet, es vorgestellt. Haben verhandelt, Geld musste aufgetrieben werden und eine Sporthalle. Das alles hat etwa ein halbes Jahr gedauert. Aber schließlich haben die Alexander Otto Sportstiftung und das Bezirksamt Altona die Kosten von rund 14.000 Euro für ein Jahr übernommen. „Wir gehen in Altona gerne neue Wege, um das Leben von Kindern zu verbessern“, sagt Stefanie von der Berg (Grüne), die Bezirksamtsleiterin von Altona, „ich hoffe, dass auch andernorts Folgeprojekte entstehen werden.“

Zunächst aber muss dieses Projekt sich in Altona etablieren. An der inklusiven Louise Schroeder Schule gibt es nur vier Kinder, die einen Rollstuhl benutzen. Weitere mit Einschränkungen in der Mobilität könnten das auch lernen und den Rollstuhl als Sportgerät erfahren.

David Lebuser von sit´n´skate e.V. erklärt Mila am Mittwoch (22.06.2022) in der Turnhalle der Louise-Schroeder-Schule die Handhabung eines Rollstuhls Foto: Roland Magunia/Funke Foto Services
David Lebuser von sit´n´skate e.V. erklärt Mila am Mittwoch (22.06.2022) in der Turnhalle der Louise-Schroeder-Schule die Handhabung eines Rollstuhls Foto: Roland Magunia/Funke Foto Services © Roland Magunia/Hamburger Abendblatt | Roland Magunia/Funke Foto Services

Wichtig ist jedoch, auch Kinder von benachbarten Schulen in die Gruppe zu bekommen. „Ich stehe im Kontakt zu den Kollegen“, sagt Schulleiterin Patricia Renz, „wir müssen aber noch Möglichkeiten finden, wie wir den Transport der Kinder zu unserer Schule auf die Beine stellen.“

Rosa Prinzessinnen-Räder

David ist inzwischen „entzaubert“, „Fee“ Lina konnte ihn abklatschen. Lina ist sechs Jahre alt und wird nach dem Sommer die erste Klasse besuchen. „Es macht Spaß!“, ruft sie, dann düst sie in ihrem Rollstuhl mit rosa Prinzessinnen-Rädern wieder ab. Mutter Simone Buchethal schaut sich das Treiben glücklich an. „Für Lina ist solch eine Gruppe ideal, ich habe sie schon angemeldet“, sagt sie, „Lina soll lernen, dass Bewegung im Rollstuhl Spaß macht.“ Das Mädchen leidet von Geburt an an der seltenen Gelenkkrankheit ANC – „sie kann laufen, soll das aber besser nicht“.

Auf Rollstuhlfahrer warten in der Stadt immer noch zahlreiche Barrieren, auch wenn das öffentliche Bewusstsein für diese Herausforderungen insgesamt in den vergangenen Jahren sicherlich gewachsen ist. Aber ein Kantstein bleibt nun mal ein Kantstein, und den gilt es zu überwinden. Das muss man lernen, eine Aufgabe, die Reha-Maßnahmen, gesetzliche Krankenkassen oder Ergotherapeuten insgesamt nicht ausreichend leisten (können): weil es an Geld fehlt, Räumen und Menschen.

David Lebuser ist Vorbild für kleine Rollifahrer

Das Konzept von „sit’n’skate“ könnte diese Lücke zum Teil füllen. „David Lebuser macht den Rollstuhl zum Sportgerät. Die spektakuläre Art, mit der er sich darin bewegt, spricht gerade viele junge Menschen an, es selbst auszuprobieren, ihre Fähigkeiten zu trainieren und sich für den Sport zu begeistern. Von daher ist er als Vorbild und in Kombination mit dem pädagogischen Know-how von Jens Naumann ein ideales Duo, um dieses Angebot zu etablieren“, sagt Alexander Otto, Kuratoriumsvorsitzender seiner Sportstiftung.

„Feuer!“, ruft Jens Naumann in die Halle. Rette sich, wer kann. Dafür müssen sichere Inseln erreicht werden. Das sind die blauen Turnmatten, die überall auf dem Boden liegen. Der sechsjährige Aaron ist in Nullkommanix bei einer angekommen und hebt seine Vorderräder hoch – geschafft, erste Lektion in Kantstein-Überwinden erledigt. „Cool“, sagt er und freut sich, „ich kann super gut Rolli fahren.“

Rollstuhl gibt auch Freiheit

„Es gibt für die meisten Probleme eine Lösung“, sagt die ehemalige Rollstuhlbasketball-Nationalspielerin Verena Klein, eine Sozialpädagogin, die als Fachreferentin für Mobilität zum Betreuerteam gehört. „Die Kinder sollen erfahren, dass der Rollstuhl nicht behindert, sondern ihnen Freiheit gibt.“ Dabei helfen Vorbilder. Wenn Lebuser drei Treppenstufen auf einmal nimmt, dann erbleicht sogar Klein: „Ich kann das nicht, aber die Kinder sehen, was möglich sein kann. Es gibt kaum Grenzen, das wollen wir vermitteln.“

Sit’n’skate startet als Pilotprojekt an der Louise Schroeder Schule (Thedestraße 100), doch Rollstuhl fahrende Schüler aus anderen Schulen können gerne an dem Training teilnehmen. Anmeldungen unter E-Mail: mail@sitnskate.de