Hamburg. Im Projekt von Hamburg Leuchtfeuer leben junge, chronisch kranke Menschen und Familien ohne Einschränkungen in einer Gemeinschaft.

Zehn Jahre lang hat Katharina Henning gewartet, bis sie endlich bei Festland einziehen konnte. Schon als Schülerin hörte sie von dem außergewöhnlichen Wohnprojekt, das Hamburg Leuchtfeuer in der HafenCity geplant hatte. „Ich wusste sofort, dass das zu mir passen würde und dass ich dann zu Hause ausziehen könnte, um eigenständig zu leben“, sagt die 31-Jährige. Seit einem Jahr wohnt sie nun in ihrer Traumwohnung in der Baakenallee – dazwischen hat sie Abitur gemacht und soziale Arbeit studiert. Wenn ihre Mutter nicht da ist, hat sie rund um die Uhr eine Assistenz, die der jungen Frau beim Waschen, Anziehen und Kochen hilft – ihre Hände so ersetzt.

Denn Katharina Henning hat eine sehr seltene, unheilbare, chronische Krankheit namens Morbus Still. „Mein Immunsystem zerstört meinen Körper, die Gelenke und Knochen zerbröseln, dadurch bin ich sehr bewegungseingeschränkt und nur langsam gewachsen“, sagt sie. In ihrem barrierefreien Badezimmer sind Waschbecken und Toilette auf ihre Größe angepasst. „Nur bei den Türgriffen habe ich nicht aufgepasst, die sind etwas zu hoch“, sagt sie lachend. Außerhalb der Zweizimmerwohnung fährt sie mit dem Rollstuhl, aber drinnen kann sie sich gehend bewegen.

Wohnprojekt in der HafenCity: Die junge Frau gehörte zum Expertenrat

Katharina Henning ist im ganzen Haus bekannt, denn sie gehörte zum Expertenrat des Wohnprojekts, der die Architekten und Planer beriet, welche besonderen Bedarfe Menschen mit chronischen Erkrankungen und Gehbehinderungen haben. So achtete sie darauf, dass bei allen Wohnungen der Zugang zum Balkon ebenerdig ist und das Badezimmer eine Schiebetür hat. „Ich fand es toll, dass ich mich hier beteiligen konnte, denn Menschen wie ich werden selten für so etwas angefragt“, sagt sie. Sie ließ sich auch für Werbeprospekte und Flyer fotografieren, „denn es mussten ja viele Spenden reinkommen für Festland“.

So half Katharina Henning mit, dass aus einer Idee, die mit einer Bedarfsanalyse 2010 anfing, ein moderner Wohnblock mit 21 öffentlichen geförderten Apartments für junge, chronisch kranke Menschen und sechs frei finanzierten Wohnungen wurde. Etliche der 34 Bewohnerinnen und Bewohner haben multiple Sklerose, manche Muskel- oder Nervenschwächen, andere eine unheilbare Viruserkrankung wie HIV. Sie alle können in dem Projekt wohnen bleiben, auch wenn es ihnen mal schlechter geht.

Mangel an Wohnraum für junge chronisch Kranke

„Wir von Hamburg Leuchtfeuer haben festgestellt, dass es einen erheblichen Mangel an Wohnraum für die Gruppe chronisch Kranker zwischen 18 und 55 Jahren gibt. Ab 55 Jahren hat man Anspruch auf einen Platz im Pflegeheim, aber davor muss man entweder auch ins Altenheim oder zu Hause wohnen“, sagt Christian Kaiser-Williams, der zentraler Ansprechpartner bei Festland ist und gemeinsam mit seiner Kollegin Jeannine Kontny zweimal in der Woche eine Sprechstunde im Haus anbietet.

Kaiser-Williams unterstützt die Bewohner bei Alltagsfragen und persönlichen Problemen, bei Behördenangelegenheiten, aber auch bei der Organisation von Gemeinschaftsaktivitäten, die jetzt nach der Corona-Pandemie vermehrt starten sollen. Dafür gibt es eine große Dachterrasse – „auf der man sich super zu Musik und Drinks treffen kann“, wie Katharina Henning schwärmt – und einen Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss mit barrierefreier Küche und einem langen Holztisch, an dem gegessen, gespielt und geklönt werden kann.

Christian Kaiser-Williams im Gemeinschaftsraum mit barrierefreier Küche.
Christian Kaiser-Williams im Gemeinschaftsraum mit barrierefreier Küche. © Roland Magunia/Hamburger Abendblatt | Roland Magunia/Hamburger Abendblatt

In dieser Küche mit absenkbarem Kochfeld und unterfahrbaren Arbeitsplatten hat auch schon Mirjam Giese mit Katharina Henning und anderen Festland-Bewohnern in der Adventszeit Kekse gebacken. Die Allgemeinmedizinerin ist mit ihrem Mann, einem Lehrer, und zwei Söhnen im März 2021 in eine der frei finanzierten Dreizimmerwohnungen gezogen. Vorher haben sie in einem Altbau in Eimsbüttel gewohnt.

Leben im Modellprojekt

„Uns haben hier vor allem der inklusive Gedanke gereizt und die Idee von einer gelebten Nachbarschaft, das hatten wir vorher gar nicht“, sagt die 55-Jährige. Ihr Sohn Ben war dabei die treibende Kraft. Der 21-Jährige studiert Stadtplanung in der HafenCity und hat jetzt nicht nur ein paar Schritte zu seiner Uni, sondern lebt in einer Art Modellprojekt, das seiner Meinung nach die Zukunft des Wohnens sein sollte. „Hier leben Menschen mit und ohne Behinderung in einem Haus, Empfänger von Grundsicherung, Arbeiter, Akademiker, Auszubildende und Geflüchtete. Das finde ich einfach großartig“, sagt der engagierte junge Mann, dessen technisches Knowhow bei den Nachbarn gefragt ist.

Seine Mutter hingegen hilft mit medizinischem Rat, bekommt öfter Besuch von Bewohnerinnen und passt auch mal auf die Katze von Katharina Henning auf, wenn diese über das Wochenende verreist ist.

Der Mensch steht im Vordergrund

„Man kann Kontakt haben, wenn man möchte, aber ich stelle auch mal die Klingel aus, wenn ich für mich sein möchte. Grundsätzlich helfe ich jedoch gerne, fühle mich hier pudelwohl und finde auch toll, dass es das Serviceteam gibt, wenn man selber mal ein Anliegen hat“, sagt Mirjam Giese. Auch Katharina Henning fühlt sich sichtlich wohl bei Festland. „Ich bin zum ersten Mal in meinem Leben selbstständig, sorge selber dafür, dass der Kühlschrank voll ist, zahle meine Rechnungen. Ich habe gerne bei meinen Eltern gelebt, das war ein geschützter Raum, aber ich bin froh, dass ich meine Mutter nun entlasten kann und hier mehr Privatsphäre habe“, sagt die lebhafte junge Frau, die sich gern unter der Woche mit ihren Freunden trifft. Sie habe nun auch zuvor verborgene Talente bei sich entdeckt: dass sie gut mit Geld umgehen, sehr praktisch denken und gleichzeitig kreativ sein könne.

Sie trifft sich häufig mit Nachbarn, schaut gemeinsam mit ihnen einen Film, bringt Essen vorbei oder quatscht einfach mal ein Viertelstündchen in einer der gemütlich gestalteten Klönecken im langen Flur ihres Stockwerks. „Unsere Erkrankungen sind selten ein Thema, bei uns steht der Mensch im Vordergrund“, sagt die ehrenamtliche Gerichtsschöffin. Sie sei sehr dankbar für ihre Wohnung bei Festland, „denn hier werde ich nicht, wie in einem Pflegeheim, vom System und dessen Ablauf bestimmt, sondern bin ein aktiver Teil der Gesellschaft, ein freier Mensch. Hier wird Inklusion wirklich gelebt.“