Aljosha Muttardi ist Arzt, Influencer und engagiert sich für vegane Ernährung und die queere Gemeinschaft. Jetzt hat ihn auch Netflix entdeckt.

Es ist eine zugegeben recht naive Vorstellung vieler Menschen, die in ihrem Leben noch nie Ausgrenzung erfahren haben: dass all jene daraus wenigstens eine Stärke gezogen haben, die sie durch den Rest des Lebens trägt und für alle weiteren schlimmen Momente unangreifbar macht. Damit räumt Aljosha Muttardi gleich zu Beginn der aktuellen Folge des Abendblatt-Podcasts „Von Mensch zu Mensch“ auf. „Es gibt ja immer so Sprüche, dein Trauma hat dich stärker gemacht und so weiter. Aber mein Trauma der Ausgrenzung und Diskriminierung aufgrund meiner Homosexualität hat dazu geführt, dass ich ein verzerrtes Bild von mir selbst entwickelt habe und eine tief verankerte Unsicherheit. Und es wäre natürlich besser, wenn ich das Ganze ohne diese schlimmen Erfahrungen geschafft hätte.“

„Das Ganze“ ist ein Begriff für all das, was Aljosha Muttardi in den vergangenen Jahren erreicht hat. In den sozialen Medien ist der YouTuber einer der bekanntesten Influencer Deutschlands, auf seinem Insta­gram-Account folgen dem 33-Jährigen mehr als 68.000 Menschen und täglich werden es mehr. In seinem Beiträgen geht es um die Themen, für die der Hamburger brennt: vegane Ernährung, aber vor allem um eine tolerante und offene Gesellschaft, in der niemand aufgrund seines Andersseins ausgegrenzt wird.

Ab 9. März bei „Queer Eye Germany“

Eine Mischung, die ankommt. Vom 9. März an ist Aljosha Muttardi als einer von fünf Protagonisten in der neuen Netflix-Serie „Queer Eye Germany“ zu sehen – in den USA gehört die Serie zu den erfolgreichsten Eigenproduktionen des Streamingdienstes, nun gibt es erstmals einen deutschen Ableger. In der Serie stehen fünf verschiedene Experten – die sogenannten Fab Five – Menschen zur Seite, die sich gerade in einer Sackgasse befinden: Sie helfen einem jungen Fußballtrainer beim Coming-out oder einem alleinerziehenden schwulen Vater beim Dating. Aljosha Muttardi nimmt die Rolle des Ernährungs- und Gesundheitsexperten ein.

Den Podcast „Von Mensch Zu Mensch“ gibt es unter www.abendblatt.de/podcast/von-mensch-zu-mensch
Den Podcast „Von Mensch Zu Mensch“ gibt es unter www.abendblatt.de/podcast/von-mensch-zu-mensch © Hamburg | Podcast Von Mensch Zu Mensch

Die Anfrage der Castingfirma war einer der Gründe, warum Muttardi im Frühjahr 2021 seinen Job als Anästhesist in einem Hamburger Krankenhaus (vorerst) an den Nagel hängte – für ihn nichts weniger als ein Lebenstraum, von dem er nie gedacht hätte, dass er eines Tages in Erfüllung gehen würde. „Als die Zusage kam, wusste ich, dafür muss ich jetzt auf jeden Fall kündigen, ich muss mir Zeit nehmen für die Dreharbeiten. Das ist eine gute Chance zu sagen: Ich mache einen Cut.“

Die Geister seiner Kindheit und Jugend

Es sind zwei Welten, wie sie gegensätzlicher nicht sein könnten. Muttardi sieht es als Privileg, dass er überhaupt die Freiheit hatte zu entscheiden. Zwischen Notaufnahme und Fernsehstudio, zwischen festen Arbeitszeiten, einem festen Gehalt – und dem Gegenteil davon.

Vier Monate haben die Dreharbeiten gedauert, Aljosha Muttardi beschreibt sie als eine intensive, emotionale und durchaus beglückende Zeit. Dass er für die Rolle in der Netflix-Serie unter Dutzenden Kandidaten ausgewählt werden würde, hätte er nie für möglich gehalten. Da waren sie wieder, die Geister seiner Kindheit und Jugend, das Gefühl, nicht richtig zu sein, nicht zu reichen, immer der Schlechteste zu sein. „Vor dem finalen Casting war ich unglaublich aufgeregt und sowieso sicher: Alle anderen sind besser als ich und ich schaffe das eh nicht, ich habe genau das am ersten Abend einem Freund als Textnachricht geschickt“, sagt Muttardi und holt Luft, „und dann hat’s doch geklappt!“

26 Jahre lang hat er Fleisch gegessen

Es ist ein stetiger Prozess: die Arbeit an sich selbst, um so zu werden, wie man gerne sein möchte. Doch Menschen wie Muttardi reicht das nicht, sie wollen zusätzlich die Welt verändern. Am Anfang, verrät er, sei er schlecht damit zurechtgekommen, dass man die Gesellschaft nicht von jetzt auf gleich davon überzeugen könne, Gewohnheiten aufzugeben – zum Beispiel das Fleischessen. „Ich war sehr wütend, ich war aggressiv, ich war das, was man einen militanten Veganer nennt. Obwohl ich 26 Jahre meines Lebens nur Fleisch gegessen hatte, und dann dachte ich: Ich sage es diesen Menschen einfach und habe erwartet, dass sie das verstehen und wie ich sofort ihre Ernährung umkrempeln. Was natürlich absurd ist.“

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Er habe verstehen müssen, dass Veränderung langsam passiert – und manchmal halt auch eben gar nicht. Was in Bezug auf das Fleischessen nichts anderes ist als beim Thema Akzeptanz von Minderheiten. „Was mir in dem Moment dieser Erkenntnis sehr geholfen hat: Man muss lernen zu akzeptieren, dass man niemanden zwingen kann, etwas zu tun“, sagt Aljosha Muttardi. „Ich kann niemanden zwingen, inklusiv zu sein oder vegan zu leben. Aber: Ich kann Menschen darauf hinweisen, dass es Vorteile hat, ich kann mein Wissen teilen, ich kann mein Bestes tun, mich dafür einzusetzen.“

Er macht Mut, Anderssein offen zu leben

Das tut Aljosha Muttardi, Tag für Tag, auch wenn es mühsam ist. Für viele Menschen ist er genau deshalb ein Vorbild, egal, ob sie queer sind, der Norm entsprechen oder eine Behinderung haben. Muttardi predigt nicht, er unterhält, hinterfragt sich dabei und macht anderen Mut, ihr Anderssein offen zu leben. „Wir müssen dahin kommen, dass niemand mehr hinstarrt, wenn er ein Kind im Rollstuhl sieht oder zwei Männer, die sich in der Öffentlichkeit küssen, dass es einfach völlig normal ist“, sagt Muttardi. „Aber das wird nicht von heute auf morgen passieren.“ Veränderung wertschätzen und nicht Perfektion erwarten, das sei eines seiner Mantras geworden in den vergangenen Jahren. Sich über die kleinen Schritte freuen, bei sich selbst oder bei anderen.

Den Podcast „Von Mensch Zu Mensch“ gibt es unter www.abendblatt.de/podcast/von-mensch-zu-mensch