Jonathan ist sechs Jahre alt und lebt mit einem seltenen Gendefekt, der sich lebensverkürzend auswirkt. Wie geht man als Mutter damit um?

Jonathan ist sechs Jahre alt. Das ist der schönste Satz, der in diesem Artikel stehen wird, und er geht sogar noch weiter: Jonathan weint und jauchzt und lacht, und seine Mutter muss selbst lachen in diesem Moment, „aber es ist tatsächlich so“, sagt Simone Braunsdorf-Kremer: „Jonathan hat einen großartigen Humor. Sobald mir hier im Haus irgendetwas herunterfällt oder mir sonst ein Missgeschick passiert, lacht er sich schlapp. Er ist ein lebenslustiges, fröhliches Kerlchen.“

Und dann ist kurz eine Pause im Gespräch und in der Leitung so etwas wie ein freudiges Seufzen zu hören – das ist Simone Braunsdorf-Kremer selbst. „Ich würde nicht tauschen wollen, für nichts in der Welt“, sagt sie aus tiefstem Herzen. Das ist wahrscheinlich der zweitschönste Satz, der an diesem Sonntagvormittag fällt.

Es war ein langer Weg bis hierhin. Begonnen hatte er für Simone Braunsdorf-Kremer bereits in der Schwangerschaft: Schon bei den Vorsorgeuntersuchungen fiel auf, dass Jonathan viel zu klein und zu leicht war für die jeweilige Schwangerschaftswoche. Die Ärzte vermuteten, dass es an einer Unterversorgung der Plazenta lag – und bereiteten die Mutter auf eine Frühgeburt vor. Die Diagnose Kleinwuchs schloss man aus, in keiner der beiden Familien hatte es zuvor Fälle gegeben. Die Fruchtwasseruntersuchung war ohne Befund.

Ein Gendefekt aus dem Kleinwuchsbereich

Zu früh war Jonathan dann wirklich: In der 28. Schwangerschaftswoche kam er zur Welt, ein winziges Wesen, schutzlos und schmal, 490 Gramm leicht – für diesen Zeitpunkt der Schwangerschaft viel zu wenig. Ein Gendefekt aus dem Kleinwuchsbereich war erstmals eine Vermutung von vielen. Bis Simone Braunsdorf-Kremer diese Vermutung googelte – und Bilder fand, die sie in ihrer schlimmsten Befürchtung bestätigten: Genauso sah Jonathan aus.

Die finale Diagnose einer Humangenetikerin kam einige Zeit später. Es war ein Moment, der jeder Mutter den Boden unter den Füßen weggezogen hätte. Nicht nur wegen der Gewissheit, dass das eigene Kind ein Leben lang behindert sein würde. Sondern auch, weil dieses Leben deutlich kürzer werden würde als gedacht: Die durchschnittliche Lebenserwartung von Kindern mit MOPD1 liegt bei neun Monaten, nur sieben bestätigte Fälle gibt es in Deutschland. „Wie sollte ich das schaffen?“, sagt die 44-Jährige. „Ein Wesen lieben zur lernen, von dem ich wusste, dass es neun Monate später womöglich nicht mehr da ist? Für mich war das am Anfang unvorstellbar.“

19 Medikamente bekommt Jonathan – jeden Tag

Aber es ging. Und es geht. Jonathan spielt, schreit, schweigt, lacht und meckert, seit mehr als sechs Jahren. Wenn seine Mutter von ihm spricht, dann leuchtet ihre Stimme, ihr Gesicht ist ein einziges Lächeln, auch wenn es bei dem Gespräch nur auf dem Computer-Bildschirm zu sehen ist. Simone Braunsdorf-Kremer ist ein positiver Mensch. Ihr Alltag im Westerwald ist alles andere als einfach, aber das eine hat mit dem anderen ja oft erstaunlich wenig zu tun. Jonathan ist zwar schon sechs Jahre alt, trotzdem muss Simone Braunsdorf-Kremer ihn noch füttern und wickeln und mit Medikamenten versorgen, 19 Gaben sind es am Tag. 82 Zentimeter ist Jonathan groß, wiegt sieben Kilogramm und hat einen Kopfumfang von 35 Zentimetern – bei vielen Neugeborenen ist er bereits größer. „Diese Menschen sind wirklich die kleinsten der Welt“, sagt Simone Braunsdorf-Kremer.

Sachlich beschreibt sie die Auswirkungen des Gendefekts auf Jonathans Entwicklung, mit der Zeit ist sie selbst zur Expertin geworden – auch was das Thema Inklusion angeht. Und selbst da bleibt sie bei den Tatsachen und klingt nie verbittert, geschweige denn aufgebracht. Sie erzählt von der Suche nach einem Kita-Platz für ihren Sohn, die in einer großen Enttäuschung endete: Die Kita, die Jonathan eigentlich nehmen wollte (nach etlichen Absagen zuvor), machte im letzten Moment doch noch einen Rückzieher – weil Jonathan nicht das leisten könne, was die anderen Kinder leisten, wenn es um Ausflüge oder gemeinsames Kochen gehe.

Wie schafft man es, nicht an der Diagnose zu zerbrechen?

„Das hat mir einfach gezeigt: Inklusion sieht auf dem Papier total gut aus, aber in der Realität hapert es noch ganz schön“, sagt sie. Ganz abgesehen davon, dass Jonathan zu diesem Zeitpunkt eine Gehirnentzündung bekam und um sein Leben kämpfen musste. An Kita war in diesem Moment nicht mehr zu denken.

Doch nicht nur um das Thema Inklusion geht es in der aktuellen Folge des Podcasts „Von Mensch zu Mensch“. Sondern auch um die Frage, wie man als Familie mit dieser Diagnose lebt, wie man nicht an ihr zerbricht – ja, sie sogar für sich selbst zum Positiven wenden kann. Denn das ist Simone Braunsdorf-Kremer gelungen: Zum Beispiel hat sie einen gemeinnützigen Verein gegründet.

Walking with Giants Germany e. V. ist eine Außenstelle des Dachvereins in Liverpool, der sich um Familien kümmert, die von MOPD Typ 1 und allen anderen Formen von Mikrozephalem Primordialem Kleinwuchs betroffen sind.

Eine Anlaufstelle für betroffene Familien in Deutschland

In Deutschland gab es bislang keine Anlaufstelle für Kinder mit diesem Gendefekt und ihre Eltern. Wer von der Diagnose betroffen war, musste die Dinge mit sich allein ausmachen – und sich die Informationen mühsam im Internet selbst zusammensuchen. „Als wir zum ersten Mal zu einer Convention nach Liverpool gefahren sind, haben wir erst gemerkt, wie unfassbar gut das ist“, erzählt Braunsdorf-Kremer: „Sich mit anderen Betroffenen auszutauschen, die einem Mut machen, die einem helfen …“

Dieses Gefühl möchte die 44-Jährige nun auch Familien in Deutschland vermitteln. Und sie ist auf der Suche: Nach weiteren Eltern, die ein betroffenes Kind haben, aber noch nichts von der Diagnose wissen – weil zu wenig über den Gendefekt bekannt ist. „Ich bin mir sicher, dass es auch gerade im Raum Hamburg Familien gibt, die ein Kind mit MOPD1 haben, aber von nichts wissen“, sagt sie.

Wer den Verein unterstützen möchte, findet unter www.walkingwithgiants.de Informationen.