Hamburg. Lisa Waldherr (31) lebt zwischen zwei Polen. Das bedeutet, dass sich bei ihr oft depressive und hypomane Phasen abwechseln.

Manchmal kam sie wie aus heiterem Himmel, zu anderen Zeiten kündigte sie sich mit dem grauen Herbstwetter oder nach einer stressigen Phase an: tiefe Traurigkeit und Verzweiflung. Diese plötzliche Leere und Lähmung, die jedes Aufstehen zu einer Tortur werden lassen.

Lisa Waldherr kann aber genauso davon berichten, wie es sich anfühlt, abzuheben, vor Glück bebend auf Tischen zu tanzen, ein Leben ohne Maß und Mitte, immer am Limit zu führen. Die 31-Jährige lebt zwischen zwei Polen. Sie hat eine Bipolar-2-Störung. Das bedeutet, dass sich bei ihr oftmals depressive und hypomane Phasen abwechseln.

Lisa Waldherr geht offen mit ihrer Bipolar-2-Störung um

Es ist eine unheilbare Erkrankung, man kann sie mit Medikamenten einstellen, aber dennoch die Hochs und Tiefs nie ganz abstellen. Lisa Waldherr lebt gut und vor allem offen damit. Ihre Familie, ihre Freunde, sogar ihr Arbeitgeber wissen davon. Sie möchte, dass psychische Erkrankungen enttabuisiert und vor allem entstigmatisiert werden. Deswegen schreibt die Hamburgerin darüber in ihrem BlogTanz zwischen den Polen“ und erzählt davon im Podcast „Von Mensch zu Mensch“.

Eine der häufigsten psychiatrischen Erkrankungen

Bipolare Störungen (auch als manisch-depressive Erkrankungen bekannt) gehören zu den häufigsten psychiatrischen Erkrankungen in Deutschland. Rund 1,5 bis drei Prozent der Bevölkerung – also etwa zwei Millionen Menschen – sind von diesen krankhaften Stimmungsschwankungen betroffen, oft beginnen sie im jungen Erwachsenenalter, heißt es in einer Infoschrift der Deutschen Gesellschaft für bipolare Störungen e. V. (DGBS). Man unterscheidet Bipolar-1- und Bipolar-2-Gruppen, wobei sich Letztere vor allem dadurch unterscheidet, dass die manischen Phasen eine leichtere Form haben (Hypomanie). „Man ist nur mehrere Tage oder wenige Wochen in einer leicht gehobenen Stimmung. Es treten keine psychotischen Symptome wie zum Beispiel Halluzinationen auf, wie sie bei der Manie vorkommen können“, erklärt Lisa Waldherr in ihrem Blog.

60 Prozent der Patienten erhalten Diagnose spät oder gar nicht

Erst seit vier Jahren kennt sie ihre Diagnose, kann Frühwarnzeichen deuten und aktiv gegensteuern. Bei etwa 60 Prozent der Patienten wird die Erkrankung nicht erkannt oder fehldiagnostiziert, manchmal dauert es laut DGBS bis zu 15 Jahre, bis Betroffene wissen, was mit ihnen los ist. Wüssten sie früher davon, könnten Suizidversuche, Alkohol- und Medikamentenmissbrauch sowie massive Beziehungskonflikte vermieden werden. Das ganze Umfeld leidet mit – besonders, wenn es nicht weiß, was dem Betroffenen fehlt.

Lisa Waldherr war 13, als sie ihre erste depressive Phase hatte, in der sie gleichzeitig panische Angst vor Krebs entwickelte, eine richtige Phobie, die sie in tiefe Verzweiflung stürzte. „Ich erinnere mich an einen Nachmittag, als ich zu meiner Mutter sagte, dass ich nicht mehr leben wolle. Es tat mir so leid, dass ich ihr solche Sorgen bereitete, aber ich konnte einfach nicht anders“, schreibt die junge Frau in ihrer Kurzbiografie. Sie hat immer Tagebuch geführt und sich später – in der Therapie 2017 – ihren Leidensweg in einer psychiatrischen Klinik von der Seele geschrieben.

Nach dem Abitur dreht sie komplett frei

Bis zum Abitur kam sie gut über die Runden, flog danach für ein Jahr ans andere Ende der Welt. Australien, Neuseeland, Bali, auf die Fidschi-Inseln. „Ich war ein Schnellkochtopf, in dem der Druck über die Jahre so groß geworden war, dass er sich durch eine Explosion endlich entlud. Sämtliche Einzelteile schossen durch die Gegend. Ich drehte komplett frei. War zum ersten Mal in meinem Leben betrunken, feierte und tanzte, als gäbe es kein Morgen mehr“, beschreibt sie ihre Gefühle. Und plötzlich, am Ende der Reise, lag sie im Schlafsaal eines Hostels in Singapur, um sie herum nur „Trauer. Verzweiflung. Hoffnungslosigkeit“. Sie schaffte es irgendwie nach Hause.

Die nächsten zehn Jahre lesen sich wie eine Achterbahnfahrt zwischen Studium, Reisen, Gastronomiejobs und einer Vollzeitstelle als Projektmanagerin in einem Übersetzungsunternehmen, geprägt von Hochs und Tiefs, die mal mit Antidepressiva, mal mit Alkoholexzessen behandelt werden.

„2015 und 2016 liefen eigentlich nach dem gleichen Schema ab. Mit Beginn des Frühlings, den längeren und helleren Tagen, nahmen Euphorie, Tatendrang und Lebenshunger kontinuierlich zu, bis sie im Laufe des Sommers ihren Höhepunkt erreicht hatten, um mich dann mit dem Herbstbeginn ungebremst nicht auf dem Boden, sondern im Keller der Tatsachen aufschlagen zu lassen“, schreibt sie.

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Podcast Von Mensch Zu Mensch unter www.abendblatt.de/podcast/von-mensch-zu-mensch © Hamburg | Podcast Von Mensch Zu Mensch

Mit 27 sieht sie sich am Tiefpunkt ihres Lebens angekommen, als sie in einer toxischen Liebesbeziehung gefangen, in ihrem Gastrojob vor einem Gast zitternd zusammenbricht. Die depressive Phase, die sie dann überrollt, ist die bisher schlimmste. „Ich konnte nicht mehr schlafen, nicht mehr essen, lag tagelang wie gelähmt im Bett, starrte an die Decke. Auch mein Umfeld bekam keinen Zugang mehr zu mir. Meine Eltern waren verzweifelt“, beschreibt sie ihren Zustand im Podcast.

Sie lässt sich in eine Klinik einweisen

Es ist der Gedanke an ihre lieben Eltern, die immer zu ihr standen, der ihr hilft, sich in eine Klinik einweisen zu lassen. Dort erhält sie nach diversen Gesprächen mit einer Ärztin, Tests und Life-Chart-Analysen die Diagnose Bipolar 2. Und sie erfährt, dass sie nicht alleine damit ist.

Denn es gibt auch viele Prominente, die unter einer bipolaren Störung gelitten haben oder leiden sollen: Hermann Hesse, Friedrich Schiller, Ludwig van Beethoven, Leonardo da Vinci, Pablo Picasso und Vincent van Gogh. Amy Winehouse war betroffen ebenso wie Kurt Cobain und Winston Churchill, aber auch aktuelle Künstlerinnen wie Mariah Carey, Demi Lovato sowie Catherine Zeta-Jones geben die Erkrankung zu.

Viele Künstler haben eine Bipolare Störung

Wissenschaftler schätzen, dass die bipolare Störung unter Künstlern zehn- bis 40-mal häufiger auftritt als in der Normalbevölkerung. „So gesehen hat die Erkrankung nicht nur negative Auswirkungen, sondern scheint mit einer hohen Kreativität verknüpft zu sein. Auch das Umfeld kann den Betroffenen zum Beispiel während hypomanischen Phasen als emotionale, inspirierende Person mit außergewöhnlich positiver Ausstrahlung und enormer Leistungsfähigkeit erleben“, heißt es auf der Plattform psychisch-erkrankt.de. So möchte auch Lisa Waldherr ihre Hochphasen nicht missen, auch wenn sie mit wenig Schlaf, Herzrasen und oft exzessivem Leben einhergehen. „Man fühlt sich einfach super gut.“

Seit ihrem Klinikaufenthalt trinkt sie jedoch nicht mehr, nimmt Medikamente, die ihre Stimmung stabilisieren, und geht regelmäßig zu einer Therapeutin am UKE. Sie hat ein Studium für kreatives Schreiben begonnen, gibt Schreibworkshops und arbeitet gleichzeitig als Servicekraft in einem Café. Der Job gibt ihr Sicherheit – finanziell, aber auch emotional. Weil der Chef und die Kollegen um ihre Störung wissen, Verständnis haben, wenn in einer depressiven Phase „gar nichts mehr geht“.

Mit ihrem Blog will sie aufklären

Mit ihrem Blog will sie über die Erkrankung aufklären, anderen Betroffenen zeigen, dass sie nicht allein sind. Sie hofft, dass einige sich vielleicht wiedererkennen und „sich den langen Leidensweg bis zur Diagnose ersparen können“.

Nun sucht sie noch mehr Austausch mit Betroffenen mit einer Bipolar-2-Störung in einer Selbsthilfegruppe über KISS, die sich ab Oktober zweimal im Monat immer montags in Altona treffen soll. „Das ist ein Pfeiler, der mir noch fehlt. Denn so sehr ich die Krankheit angenommen habe, finde ich es doch wichtig, mit anderen Betroffenen meine Erfahrungen zu teilen und von ihnen verstanden zu werden.“

Infos über die Selbsthilfegruppe und den Blog unter: www.tanzzwischendenpolen.com, E-Mail: schreibcafehamburg@gmail.com