Projekt

Kuschelige Lesehilfe auf vier Pfoten

| Lesedauer: 7 Minuten
Martina Petersen
Kerstin Deters und Lesehund Emmy lesen zusammen mit Anna-Maria ein Buch

Kerstin Deters und Lesehund Emmy lesen zusammen mit Anna-Maria ein Buch

Foto: Roland Magunia / Roland Magunia/Funke Foto Services

Ehrenamtliche Mensch-Hund-Teams helfen Kindern mit Leseschwäche. Das Projekt sucht Verstärkung, um mehr Schüler unterstützen zu können

Heute darf einmal „Emmy“ aussuchen, welches Buch Anna-Maria vorlesen wird: Die sanftmütige Retriever-Hündin mit dem knallroten „Lesehund“-Halstuch tapst bei den ausgelegten schmalen Lesebüchern mit der Pfote auf einen Titel und kuschelt sich auf der Lesedecke mit viel Körperkontakt an die siebenjährige Schülerin. Als Anna-Maria hochkonzentriert zu lesen beginnt, wandert eine Hand der Erstklässlerin automatisch zum Streicheln ins seidige Hundefell.

Die humorvolle Geschichte und die lustigen Zeichnungen bringen sie und Hundebesitzerin Kerstin Deters an ihrer Seite zum Schmunzeln. Deters ist für den Verein „Lesehund im Norden“ ehrenamtlich unterwegs. Wenn Anna-Maria bei schwierigen Begriffen ins Stocken gerät, greift Kerstin Deters bewusst nicht sofort korrigierend ein, um den Lesefluss nicht zu unterbrechen. Stattdessen schmiegt sich „Emmy“ nur noch fester an das Mädchen. So wird Anna-Marias Stimme mit der Zeit lauter und fester. Am Ende der zwanzigminütigen Leseeinheit bekommt sie von Kerstin Deters für die drei vorgelesenen Bücher drei Pfoten-Stempel in ihren Lese-Pass. Dann darf Anna-Maria bei einem Buchstabenspiel zusammen mit „Emmy“ entspannen und den Hund mit Leckerli belohnen.

Weniger Angst vor dem Vorlesen

„Es ist schön zu erleben, dass Anna-Maria nach nur vier Besuchen beim Lesehund ihre Angst vor dem Vorlesen fast überwunden hat“, sagt Ellen Bischof, die ihre Tochter während des Corona-Jahres im Homeschooling beim Lesen lernen unterstützt hat. „Ohne den Kontakt zu ihren Mitschülern wusste Anna-Maria nicht, wo sie mit ihren Leistungen steht. Als sie bei der Rückkehr in den Präsenzunterricht vor den Kindern einen Fehler machte, fühlte sie sich unwohl und hat ihren Mut und die Freude am Lesen komplett verloren.“

Ähnlich ging es auch der zehnjährigen Lea Engel, die am heutigen Nachmittag die zweite Leseschülerin von „Emmy“ und Kerstin Deters ist. Lea hat bereits Ende 2020 einige Wochen mit dem „Lesehund“ geübt und kommt jetzt wieder, um das Vorlesen aufzufrischen und sich die letzten Stempel für ihren Lese-Pass zu holen. Sie liest flüssig und betont die Sätze so lebhaft, dass Kerstin Deters den Eindruck gewinnt, einem Hörbuch zu lauschen. „Es tut so gut, dass Emmy geduldig zuhört ohne zu bewerten oder zu lachen, wenn es einmal mit dem Lesen nicht so klappt“, sagt Lea und berichtet freudestrahlend davon, dass sie gerade für ein frei vorgetragenes Referat über Leopardengeckos viel Lob in der Schule bekommen hat.

Eine Lesehilfe, die Kinder viel Spaß macht

„Ein Lesehund ist ganz für ein Kind da und hilft ihm, entspannt im Jetzt zu sein“, erläutert Kerstin Deters den Erfolg der tiergestützten Intervention für Kinder mit Leseschwäche. „Wer einmal schlechte Erfahrungen mit dem Vorlesen gemacht hat, hört sich selbst beim Lesen zu und denkt parallel: `Wenn ich jetzt einen Fehler mache, werde ich bestimmt ausgelacht´. Mit so einer Angst kann kein Kind Freude am Lesen haben.“ Die dreifache Mutter hat vor vier Jahren mit ihrer Retriever-Hündin die Qualifikation zum „Lesehund“ gemacht, weil sie durch einen Sohn mit Lese-Rechtschreib-Schwäche die Frustration betroffener Kinder im Schulalltag kennt.

Seither besucht sie einmal wöchentlich mit „Emmy“ die Moorwegschule in Wedel und bietet ehrenamtlich mit ausgewähltem Lesematerial eine Form der Lernhilfe an, die Kindern Spaß macht und die sie als Belohnung und nicht als Bestrafung empfinden. Rund zwei Dutzend Grundschüler haben bisher durch eine rund viermonatige Lesezeit mit „Emmy“ an Selbstbewusstsein gewonnen und ihre Leistungen verbessern können.

Geeignet für schüchterne Jungen und Mädchen

Die positive Wirkung des „Lesehunde“-Projektes, das 2008 von der Pädagogin und Tierheilpraktikerin Kimberly Ann Grobholz in München gegründet wurde, ist mittlerweile sogar wissenschaftlich erwiesen: In Anwesenheit des Vierbeiners beim Vorlesen sinkt bei den Kindern der Blutdruck und ihr Körper produziert weniger Stresshormone.

„Der Lesehund ist geeignet für schüchterne Kinder, die durch schlechte Erfahrungen beim Vorlesen blockiert sind oder durch innerfamiliäre Krisen eine schwere Zeit haben. Ebenso kann er bei Kindern mit der Aufmerksamkeitsdefizit-Störung ADHS oder solchen, die neben ihrer Muttersprache eine zweite Sprache lernen, hilfreich sein. Wichtig ist natürlich, dass die Kinder eine positive Einstellung zu Hunden haben“, erläutert Kerstin Deters, die Mitglied im „Lesehund“-Verein ist und mittlerweile an der Münchner Akademie die Ausbildung zur „Lesehund“-Team-Ausbilderin gemacht hat.

Castings für weitere Lesehunde

Sie organisiert zusammen mit einer qualifizierten Hundetrainerin regelmäßig Castings, bei denen Familienhunde auf ihre Eignung für die Arbeit mit Kindern getestet werden. Und sie bereitet ihre Halter in eintägigen Workshops auf ihre Einsätze in Schulen, Büchereien, Schulkindbetreuung oder Heilpädagogischen Einrichtungen vor. Außerdem benötigen die Tierhalter einen Hundeführerschein mit theoretischer und praktischer Prüfung wie beispielsweise die Begleithundeprüfung oder den „D.O.Q-Test 2.0“. „Unter unseren Ehrenamtlichen sind Schülerinnen genauso wie Seniorinnen. Wichtig ist, dass sie Lust auf einen Einsatz mit ihrem Hund als gleichberechtigtem Partner mitbringen“, sagt Kerstin Deters. „Die Arbeit mit den Kindern bereitet erfahrungsgemäß große Freude, weil man ihre Fortschritte hautnah miterleben kann.“ Das Mensch-Hund-Team sucht sich eigenständig einen Einsatzort aus, wo der Hund regelmäßig maximal eine Stunde pro Tag zum Einsatz kommen darf.

„Die positive Erfahrung mit dem Lesehund wirkt bei manchen Schülern wie eine Initialzündung, weil sie die Erfahrung machen, dass sie sich viel mehr zutrauen können, als sie vorher dachten“, sagt Lehrerin Tanja Kasten, die an der Moorwegschule zusammen mit den Kollegen Kinder für den „Lesehund“ auswählt. „Sie machen Fortschritte beim Leseverständnis, haben mehr Spaß beim Üben zu Hause und dadurch auch mehr Erfolgserlebnisse im Unterricht.“

Jede Schule sollte einen Lesehund haben

Besonders deutlich war die Veränderung bei einer Schülerin aus ihrer Klasse, die sich aufgrund frühkindlicher Gewalterfahrung bei ihrer Tagesmutter gar nicht am Unterricht beteiligen konnte und bei der Aufforderung zum Vorlesen in Tränen ausgebrochen ist. Neben traumatherapeutischen Interventionen unterstützten auch „Emmy“ und Kerstin Deters die Drittklässlerin dabei, systematisch Selbstbewusstsein beim Lesen aufzubauen: Zuerst las die Schülerin allein mit dem Lesehund, dann kamen Freundinnen dazu, und schließlich begleitete „Emmy“ das Mädchen zum Vorlesen in die Klasse.

„Durch den Lesehund hat Sophie so viel Sicherheit bekommen, dass sie über sich hinausgewachsen ist. Sie hat auf emotionaler Ebene den Durchbruch zu ihren Fähigkeiten geschafft und kann sie heute leben“, sagt ihre Mutter Nicole Kopfmann. Für das freie Nacherzählen des „Rumpelstilzchen“-Märchens vor der Klasse ist die mittlerweile Zehnjährige in der vierten Klasse sogar mit einer Eins bewertet worden. „Eigentlich sollte jede Schule einen Lesehund haben, der die Kinder so wunderbar unterstützen kann“, ist Nicole Kopfmann überzeugt.

Ab August veranstaltet Kerstin Deters monatliche Hunde-Castings für die Eignung zum „Lesehund“ (40 Euro) und Tagesworkshops für ihre Halter (130 Euro). Kontakt zu Kerstin Deters über Tel. 0177/ 82 58 980 oder

E-Mail: info@lesehund-im-norden.de. Weitere Infos im Internet unter: lesehund-im-norden.de