Das erste Mal, dass Aaron Wahl bewusst geweint hat, war mit 25 Jahren. Es geschah während eines Emotionstrainings beim Hamburger PEM Center, in dem er bewusst die Gefühle von Trauer zuließ. „Ich saß am Boden und habe drei Stunden um meinen vor vielen Jahren verstorbenen Großvater geweint. Das war eine enorme Entlastung für mich“, erzählt der 30-Jährige im Podcast „Von Mensch zu Mensch“. Emotionen zu zeigen und zu spüren, war bis dahin für ihn sehr schwer.
Denn Wahl ist Autist, er hat das Asperger-Syndrom. Und bis zu diesem befreienden Moment hatte der junge Mann ein Leben hinter sich, das sich wie ein Albtraum anfühlen muss. Er hat alles aufgeschrieben in seiner Autobiografie „Ein Tor zu Eurer Welt“. Das Buch liest sich einerseits wie die Anklage eines unverstandenen, gequälten Menschen an seine Familie und die vielen Therapeuten, die immer neue Diagnosen stellten, und gleichzeitig ist es ein Mut machendes Werk für alle Autisten, niemals aufzugeben, um den eigenen Weg zu gehen.
Die Kindheit – ein Marathon an Arztbesuchen
Aaron Wahl kommt zehn Wochen zu früh auf die Welt und seine Kindheit empfindet er als einen „Marathon aus Arztbesuchen und Sinnlosigkeiten“. Er muss zur Ergo-, Sprach- und Physiotherapie. Früh ist klar, dass er anders ist als andere Kinder. „Ich verstand deren Verhalten einfach nicht. Es gibt bei Nichtautisten ein instinktives Wissen, wie man miteinander kommuniziert. Man spricht etwas nicht aus, weil es den anderen verletzen könnte. Ich hingegen bin immer sehr direkt und spreche immer die Wahrheit aus. Das ist nicht jeder gewohnt“, sagt er.
Er gibt nie vor, etwas gut zu finden, ist sehr still, am liebsten für sich und läuft weg, wenn eine Situation für ihn zu stressig wird. Zu viele Reize und Lärm kann er bis heute nicht ertragen. Doch Aaron Wahls verzweifelte Versuche, sich anzupassen, scheitern, er findet keine Freunde, wird von frühester Kindheit an in der Schule gemobbt. So zieht er sich immer mehr zurück und teilt seine Welt auf: in die der anderen und seine eigene.
Eine frühe Diagnose hätte viel Leid erspart
Obwohl die Eltern beide Lehrer und sogar im Sonderschulbereich tätig sind, können sie der Andersartigkeit ihres Sohnes keinen Namen geben und auch kein Therapeut kommt auf die Idee, dass dahinter eine Form von Autismus stecken könnte. „Bei dem eigenen Sohn sieht man ja doch vieles anders“, schreibt Aaron Wahls Mutter in seiner Autobiografie selbstkritisch. „Heute ist für mich vieles schlüssig.“ Sie quält der Gedanke, „dass wir dir und uns vielleicht viel Leid erspart hätten, hätten wir früher gewusst, was los war“.
Aaron Wahl benennt nur einen Menschen in seiner Kindheit, von dem er sich akzeptiert fühlte: seinen Großvater, der Pastor in Hamburg war. „Er hat nie versucht, ein Verhalten von mir zu korrigieren. Er hat mich angenommen, wie ich war, und das gab mir Sicherheit“, erinnert Wahl sich. Als der Großvater dann durch einen Unfall überraschend stirbt, bricht für den damals Elfjährigen eine Welt zusammen.
Eine schreckliche Odyssee beginnt
Er verschließt sich noch mehr, rutscht in der Schule ab, hat Blackouts und ritzt sich an Armen und Beinen. Seine Eltern sehen den einzigen Ausweg darin, ihn zu einem Therapeuten zu schicken. „Doch ich wollte nie eine Therapie. Denn die Therapeuten wollten, dass ich über meine Gefühle rede. Aber ich konnte meine Trauer nicht ausdrücken und nicht weinen.“ Er macht dennoch den Realschulabschluss, beginnt eine Ausbildung als Fachinformatiker, doch die scheitert.
Danach beginnt eine schreckliche Odyssee mit verschiedensten Psychotherapien, Aufenthalten in der Psychiatrie, begleitet von Psychopharmaka, die kaum eine Wirkung zeigen. Er flüchtet in die Welt der Online-Fantasyspiele. „Soziale Aspekte spielen dort kaum eine Rolle. Und so kam ich durch die Online-Spiele in Kontakt mit anderen, was ich sehr schön fand.“ Die Mutter fürchtet jedoch, dass er spielsüchtig ist, und als er zudem anfängt, unkontrolliert Geld auszugeben und Schulden zu machen, sieht sie keine andere Möglichkeit, als ihren Sohn zu entmündigen. Er bekommt einen Vormund, später bescheinigt ihm ein Psychiatrie-Professor, dass er ein hoffnungsloser Fall sei und dass er nur versuchen könne, damit umzugehen.
Halt durch eine Beziehung, doch die scheitert
Er kommt in eine betreute Wohneinrichtung und erfährt dort zum ersten Mal, wie viel Halt eine Beziehung bedeuten kann, als er Sophie kennenlernt. „Mit ihr hat alles super gepasst, wir haben uns sehr oft getroffen, haben viel geredet, wurden intim, das erste Mal für mich im Leben. Für mich war das eine sehr schöne Zeit, weil ich so sein konnte, wie ich bin“, erzählt Wahl im Podcast. Er ist glücklich, bis eine Bekannte von der Beziehung erfährt und Aaron Wahl im Freundeskreis schlecht macht. Sophie schweigt dazu, verteidigt ihn nicht. „Da brach für mich eine Welt zusammen, ich verstand das einfach nicht. Das hat eine extreme Unsicherheit in mir ausgelöst.“
Die Folgen sind fatal für ihn. Er wird nunmehr beherrscht von seiner Sozialphobie, in der die Welt um ihn herum zum Feindesland wird. „Ich habe niemandem mehr vertraut. Jedes Lachen im Supermarkt habe ich auf mich bezogen“, erzählt er. Die komplette Isolation wird für ihn zur größtmöglichen Sicherheit. Mit 20 Jahren wird er als dauerhaft arbeitsunfähig eingestuft. „Damit war meine ,seelische Behinderung‘ amtlich verbrieft und meine gesellschaftliche Ausmusterung vollendet. Das Ende der Sackgasse, in die ich seit Jahren hineinsteuerte, war erreicht. Der hoffnungslose Fall ließ die letzte Hoffnung fahren. Das folgende Jahr war nicht mehr als ein Dahinvegetieren“, schreibt er im Buch.
2016 wird zum Wendejahr für Aaron Wahl
Als er 25 Jahre alt ist, wird die Betreuung durch den Vormund aufgehoben. 2016 wird zu seinem Wendejahr, wie Aaron Wahl es nennt. Seine Mutter drängt ihn, sich nun doch auf Autismus untersuchen zu lassen. Bei seiner neuen Therapeutin, die auf Erwachsene mit einer Autismusspektrumstörung spezialisiert ist, bestätigt sich der Verdacht. „Für meine Familie war die Diagnose sicher eine Erleichterung, ich fand vor allem interessant, dass es nun Erklärungen dafür gibt, wie ich bin, und dass es andere Menschen gibt, die sind wie ich.“
Seine Therapeutin empfiehlt ihm zudem, an einem Experiment des Hamburger PEM Centers teilzunehmen. Das „Kunst- und Kulturzentrum für emotionale Bildung“ erprobt mit Wahl und anderen Asperger-Autisten, ob die Perdekamp’sche Emotionsmethode, die für Schauspieler entwickelt wurde, auch bei Autisten funktioniert.
Die PEM-Technik ermöglicht den Zugang zu Gefühlen
PEM ist eine Technik, die mithilfe von Körper- und Organarbeit Emotionen auslöst. Aaron Wahl erfährt einen Zugang zu seinen Gefühlen, zu seiner Trauer, spürt Glück und Angst. „Der Ansatz von PEM ist die Unterstützung von Menschen zur Selbstermächtigung und Selbstverwirklichung“, so beschreibt es PEM-Erfinder Stephan Perdekamp, der künftig Emotionsmanagement bei der Ausbildung von Krankenpflegern an der HAW unterrichten wird.
Für Aaron Wahl wird das PEM Center in Rothenburgsort mit seinen Mitarbeitern, die ihn ins Team aufnehmen, zur neuen Heimat. Er baut 2017 den Bereich PEM Autism auf, macht eine Ausbildung zum Emotionstrainer und schreibt eine Autobiografie. Er hält seither Vorträge und Lesungen, wird Mitglied im Hamburger Landesbeirat für die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Aaron Wahl ist nun 30 Jahre alt und hat mehr erreicht, als er sich je hätte träumen lassen: ein glückliches, selbstbestimmtes Leben und die Erfahrung, dass er mit seiner Geschichte anderen Mut machen kann.
Podcast zum Thema unter: www.abendblatt.de/podcast/von-mensch-zu-mensch
Aaron Wahl: „Ein Tor zu eurer Welt. Wie ich als Autist meine Gefühle lieben lernte“. Vorwort von Tony Attwood. Knaur, 256 S., 12,99 Euro.
Infos zu PEM Autism: Tel. 55 43 40 99, E-Mail: info@pem-autism.org; www.pem-autism.org/
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