Inklusion

Keine ganz normale Familie

| Lesedauer: 6 Minuten
Sabine Tesche
Verena und Andrea Klein (li.) mit zwei der drei Pflegetöchter Line (li) und Laura

Verena und Andrea Klein (li.) mit zwei der drei Pflegetöchter Line (li) und Laura

Foto: Marcelo Hernandez

Verena sitzt im Rollstuhl und ist mit Andrea Klein verheiratet. Zusammen haben sie drei Pflegekinder – eines ist schwerbehindert.

Am Schrank im Wohnzimmer der Kleins hängt ein symbolträchtiges Kinderbild, das Laura gemalt hat. Es zeigt die beiden Mütter Andrea und Verena und die drei Pflegetöchter Line, Ka­thi und Laura (Namen geändert). Sie alle lachen und über den fünf spannt sich ein wunderschöner Regenbogen. „Das passt so gut zu uns, wir sind ja auch eine Regenbogenfamilie“, sagt Verena Klein und drückt ihrer Frau Andrea liebevoll die Hand. Dann fährt sie schwungvoll mit ihrem Rolli in die Küche und zeigt auf ein anderes Bild. Darauf ist eine Frau, die ihre Muskeln zeigt, und über ihr steht der Spruch „We can do it“ – das ist das Lebensmotto der Kleins.

Es fängt schon früh mit Verena an, die mit 30 durch einen unverschuldeten Autounfall querschnittsgelähmt wird. Statt zu verzweifeln, berappelt sich die sportliche, zierliche Frau innerhalb eines Jahres und wird Nationalspielerin im Rollstuhlbasketball. Sie spielt mit bei mehreren Weltmeisterschaften und bei den Paralympics in Sydney und Athen.

In leitender Funktion arbeitet die Sozialmanagerin beim Servicezentrum Kirchdorf-Süd, lernt dort Andrea kennen. Seit 1998 sind sie ein Paar und „nachdem wir uns ausgetobt haben“, wird ihnen klar, dass sie gemeinsam mit Kindern leben möchten – und auch, dass sie ihre Liebe und Kraft an kleine Menschen geben wollen, die kein gutes Zuhause erlebt haben. „Wir haben bei unserer Arbeit so viele Kinder in Not gesehen und wollten deswegen Pflegeeltern werden. Da gibt es viel mehr Begleitung und Hilfe von außen, das fanden wir gut“, sagt die Theologin Andrea. Sie als erfahrene Mitarbeiterin in sozialen Einrichtungen und Verena als Sozialpädagogin sind qualifiziert als Erziehungsstelle – für Kinder mit Entwicklungsrückständen und erhöhtem Betreuungsbedarf.

„Wir haben uns dann gleich bei dem freien Träger Pfiff beworben, weil wir uns dachten, dass die vielleicht auch toleranter unserer Lebensform gegenüber sind“, sagt Verena Klein. Sie sind offen für jedes Kind. „Uns waren Herkunft, Geschlecht und mögliche Einschränkungen total egal. Es sollte einfach zu uns passen“, sagt Andrea. Und Line passt – obwohl sie so schlechte Prognosen hat. Sie ist schon 20 Monate alt, als sie aus einem Kinderschutzhaus zu dem Frauenpaar kommt. „Sie wurde als Frühchen in der 27. Woche von ihrer Mutter verlassen“, erzählt Verena. Während Line im Brutkasten mit einem schweren Fetalen Alkoholsyndrom kämpft, auch heute noch unter einer Geh-, Seh- und Blasenreifungsstörung leidet, geht ihre Mutter zurück in ihr Drogenleben. „Man hat uns gesagt, dass Line wahrscheinlich niemals laufen, sprechen und lachen wird. Das konnten wir nicht glauben, wir sahen mehr in der Kleinen“, sagt Andrea. Sie fördern das Mädchen mit Therapien, Krankengymnastik und vor allem mit viel Liebe, stabilen Strukturen und einem verlässlichen Alltag. Und das Paar hat recht behalten: Line ist zwar geistig behindert, aber ansonsten ein sehr fröhliches, einfühlsames 16-jähriges Inklusionskind an einer Hamburger Stadtteilschule.

Als mit Kathi zwei Jahre später ein weiteres Pflegekind in die Familie kommt, lässt Verena sich als Leiterin einer Einrichtung der Stiftung Alsterdorf dauerhaft beurlauben, Andrea arbeitet weiter Teilzeit in der Erwachsenenbildung. Kathi ist nur eineinhalb Jahre jünger als Line und „war anfangs ein total verängstigtes, zurückgezogenes Mädchen. Zum Glück war Line da, sie hat Kathi ermöglicht, auch zu uns eine Beziehung aufzubauen“, erinnert sich Verena, die ein sehr enges Verhältnis zu ihrer zweiten Pflegetochter hat.

Kathis Eltern waren Alkoholiker, sie erinnert sich nicht an sie und hat auch keinen Kontakt zu ihnen. Sie weiß nur, dass sie manchmal schlecht schläft und noch immer Angst vor Fremden hat. Sie ist ungern alleine, manchmal schickt sie zur Kontaktaufnahme Line vor, „die ist mutiger als ich“. Dafür ist Kathi sehr differenziert und reif für ihre 15 Jahre. Sie geht offen mit ihrem Pflegekindstatus und der Homosexualität der beiden Mütter um. Kathi sagt, sie sei ihren Eltern, die sie Mimi und Mama nennt, zutiefst dankbar. „Die beiden sind immer für mich da, egal ob es mir gut oder schlecht geht. Sie geben mir ein Gefühl von Sicherheit.“ Es ist Verena, die die Haupterziehungsarbeit übernimmt, den Alltag der Kinder organisiert, sie mit ihrem behindertengerechten Auto zu Ärzten, Therapien und Freizeitaktivitäten fährt, während An­drea eher für die Technik und den Tobefaktor in der Familie zuständig ist. Sie lassen die Kindern nie allein zu Hause und gemeinsam halten sie Lines Wutanfälle, Kathis Unsicherheiten und Lauras unbändigen Bewegungsdrang aus. Die Achtjährige kam 2009 als Baby zu ihnen und braucht besonders viel Aufmerksamkeit. Bis heute schläft sie nicht in ihrem eigenen Bett und obwohl sie intelligent ist, kann sie in der Schule ihre Fähigkeiten selten zeigen. Ihre Eltern waren zu jung und überfordert mit ihr, sie hat jedoch Kontakt zu ihnen.

Verena blickt auf die Kleine, die im Garten turnt, und sagt: „Alle unsere Töchter bringen einen schweren biografischen Rucksack mit. Doch das Schicksal kann man sich nicht aussuchen, Schicksal muss man gestalten.“ Und das tun die Kleins. Die Kinder machen Farmer-Diplome auf Bauernhöfen, reiten, spielen Fußball und Aquaball. Zeit zu zweit „ist selten und kostbar“, sagt Andrea. Zuletzt hatten sie ein paar Tage alleine nach ihrer Hochzeit 2015.

In dem Pflegebericht von Pfiff steht: „Alle drei Kinder werden von ihren Pflegemüttern optimal gefördert und unterstützt. Sie haben sich alle sehr positiv entwickelt und ihren Platz in der Gesellschaft gefunden.“ Größeres Lob kann es für Eltern wohl kaum geben.