Gibt es ein Leben danach? Der Theologe Jörgen Bruhn forscht seit rund 30 Jahren zum Thema Nahtod-Erlebnisse und hat darüber ein Buch geschrieben. VonAlexandra zu Knyphausen

Deutschlandweit erleben Tausende Menschen jedes Jahr einen Herzstillstand mit gleichzeitigem Aussetzen der Atemfunktion. Manche von ihnen sind „klinisch tot“, können jedoch wiederbelebt werden. Was man in diesem Zustand erfährt, nennt man ein „Nahtod-Erlebnis“.

Der ehemalige Religions- und Philosophielehrer Jörgen Bruhn beschäftigt sich mit diesem Thema seit drei Jahrzehnten, hat viele Gespräche dazu mit Betroffenen geführt und ein Buch dazu verfasst. Ein Gespräch darüber, was in den Minuten des Todes passiert.

Hamburger Abendblatt:

Was erfahren Menschen während eines Nahtod-Erlebnisses?

Jörgen Bruhn:

Nahtod-Erlebnisse können nur Minuten oder sogar nur Sekunden dauern. Nahtod-Erlebende können dann aber viele Stunden davon erzählen. Man hat sie ganz unabhängig von Glauben, Intelligenz, Geschlecht, Nationalität und Alter befragt. Oft passiert es bei Operationen, wenn das Bewusstsein sozusagen stillgelegt ist, manchmal kommen Menschen bei einem Unfall oder im Krieg in einen Zustand, in dem sie solche Erfahrungen machen. Es kommt auch vor, dass sie sich plötzlich im Alltag ohne besondere Gefahren einstellen. Viele berichten von einem hellen Licht, oft am Ende eines Tunnels. Ein Junge aus der siebten Klasse erzählte mir einmal, dass er dabei Farben gesehen hat, die es hier gar nicht gibt. Manche Menschen sehen Lichtwesen, manchmal auch ihre Lieblingstiere und herrliche Landschaften oder hören wunderschöne Musik – oder alles zusammen.

Was fühlen Menschen in diesen Momenten?

Bruhn:

Alle sprechen von einer gewissen Überwachheit der Sinne, die sie bisher nicht kannten. Die meisten haben Glücksgefühle und sagen, dass es in unserer menschlichen Sprache keine Worte gibt, um die Eindrücke angemessen zu beschreiben, die ihre Seele so intensiv berühren. Und das Erstaunlichste: Menschen mit Nahtod-Erlebnissen behalten, was sie erlebt haben und nehmen ihre Erfahrungen mit ins Leben hinein. Sie können dann genau berichten, was sie in der anderen Welt erlebt haben. In den allermeisten Fällen kehren sie auch nur mit Bedauern wieder in unsere irdische Welt zurück, bis sie sich an die uns bekannte Enge hier wieder gewöhnt haben.

Was hält sie dort?

Bruhn:

Die Hochgefühle, geprägt von Liebe, Zuwendung und Verbundenheit, die sich offenbar einstellen. Aber dann gibt es irgendeinen Grund, warum sie sich doch noch nicht endgültig verabschieden. Wie bei einem Jungen, dessen Vater vor gerade sechs Wochen gestorben war. Der Junge hatte sich dann entschlossen, doch wiederzukommen, weil er seiner Mutter nicht auch noch den Verlust des Sohnes antun konnte. Manche begegnen während ihrer Nahtod-Erfahrung verstorbene Verwandten, übrigens auch solchen, von deren Existenz sie bis dato gar nichts wussten.

Welches Nahtod-Erlebnis hat Sie am meisten berührt?

Bruhn:

Jedes ist auf seine Weise zu Herzen gehend. Eins der verblüffendsten war vielleicht das eines jetzt 15-jährigen Jungen, der nach meinem Vortrag zu mir kam und sich bedankte und sehr erleichtert war. Er hatte erstaunlicherweise während seiner Geburt ein Nahtod-Erlebnis gehabt, also zu einem Zeitpunkt, wo er noch keine Erfahrungen in dieser Welt gemacht haben konnte. Als er dreieinhalb Jahre alt war, hatte er es seiner Mutter erzählt, die bestätigte, dass er bei seiner Geburt fast gestorben wäre, was die Familie eigentlich vor ihm verheimlichen wollte, um ihn nicht zu belasten. Sie sagte ihm aber auch, dass er die Einzelheiten seines Erlebens niemand anderem weitererzählen sollte, damit er nicht als verrückt abgestempelt würde. Der Junge weinte dann, weil er so erleichtert war, dass er sich jetzt noch einem anderen Menschen offenbaren konnte und offensichtlich bei mir auf Glauben und Verständnis stieß.

Wie kamen Sie darauf, sich so intensiv mit diesem Phänomen zu beschäftigen?

Bruhn:

Ich hatte Religion und Philosophie studiert, aber eigentlich wurde mir nur Fachwissen vermittelt. Ich hatte das Gefühl, dass ich irgendwie zu existenziellen Erkenntnissen kommen müsste. Ich fand, dass wir Menschen ein transzendentales Defizit haben – vor allem, wenn es gegen Ende des Lebens geht. Ich bin auf C.G. Jung gestoßen, der 1944 nach einem Herzinfarkt ein Nahtod-Erlebnis gehabt hatte. Er konnte sich in dieser Situation, wie viele Menschen auch, von seinem Körper lösen und die Welt aus dem All beobachten. Damals gab es ja noch keine Satellitenfotos, aber später konnte man feststellen, dass seine Beschreibungen mit der Wirklichkeit übereinstimmten. Anfang der 60er-Jahre beschäftigten sich dann Sterbeforscher wie Raymond Moody und Elisabeth Kübler-Ross mit der Thematik. Je tiefer ich dort einstieg, desto mehr fesselten mich die Nahtod-Erlebnisse.

Waren Sie nicht skeptisch?

Bruhn:

Natürlich, ich dachte zunächst, es sei eines aufgeklärten Menschen unwürdig, sich mit Erlebnissen zu beschäftigen, die ans Mystische grenzen. Ich habe mich auch den Kritikern zugewandt, das war sehr nützlich. Einer der schärfsten war der amerikanische Kardiologe Michael Sabom. Er ließ sich von Menschen erzählen, was genau sie während ihrer „Seelenexkursionen“ erfahren hatten, und prüfte es nach. Es stellte sich heraus: Es stimmte so gut wie alles, was sie erzählt hatten.

Wie kann man sich so eine Nachprüfung vorstellen?

Bruhn:

Zum Beispiel erzählte eine Frau, die während einer Operation ein Nahtod-Erlebnis hatte, dass sich ihre Seele dabei aus ihrem Körper löste und dass sie über dem Krankenhaus geschwebt sei. Dabei sah sie nicht nur genau, welche Instrumente der Chirurg benutzte, sondern sah auch auf dem Klinikdach einen Schuh liegen, was sie definitiv nicht wissen konnte. Es wurde nachgeprüft, und der Schuh lag tatsächlich da.

Verändert eine Nahtod-Erfahrung die Menschen?

Bruhn:

Sie erfahren eine persönliche Verwandlung. Das Materielle tritt in den Hintergrund und selbst Atheisten sind danach offen für religiöse Fragen. Wer das Lichtwesen erlebt hat, dessen antireligiöse Tendenzen sind oft weg. Nahtod-Erfahrene werden sicherer in ihrem Leben, übernehmen von nun an viel Verantwortung und erkennen an, dass wir hier nur ausschnittsweise die Wirklichkeit erkennen. Sie akzeptieren, dass es noch eine andere Wirklichkeit gibt. In unseren Breitengraden landen viele bei einem Christentum. Drei Elemente sind wichtig: Gott existiert, die Seele des Menschen ist unendlich wertvoll, und das Leben geht nach dem biologischen Tod weiter.

Jörgen Bruhn studierte Theologie und Philosophie, später wurde er Deutsch-, Religions- und Philosophielehrer an der Bargteheider Dietrich-Bonhoeffer-Schule. Seit 2006 hält er Vorträge über Nahtod-Erfahrungen in Schulen und vor anderen gesellschaftlichen Gruppen. Er hat dazu das Buch geschrieben: „Blicke hinter den Horizont“, 209 S., Alsterverlag Hamburg. 19,90 Euro.