Am 28. Mai ist Welt-Multiple-Sklerose-Tag. Jessica Ehrhardt leidet unter der unheilbaren Krankheit. Ihre größte Stütze ist ihr Golden Retriever. Das hilft ihr, den Alltag zu bewältigen. Dennoch übernimmt die Krankenkasse keine Kosten für eine Ausbildung. Von Hanna Kastendieck

Auf den ersten Blick ist Phoebe eine ganz gewöhnliche Golden-Retriever-Hündin. Ein braves Tier mit sanftem Gemüt. Sie bellt kaum. Viel lieber kuschelt sie. Für Jessica Ehrhardt ist allein ihre Anwesenheit eine Quelle der Freude. Doch Phoebe ist viel mehr als eine treue Gefährtin. Viel mehr als eine aufmerksame Begleiterin auf dem Spaziergang. Mehr als ein Kamerad in einsamen Stunden. Die zweieinhalb Jahre alte Hündin ist eine unentbehrliche Stütze und stets verfügbare Hilfe für Frau Ehrhardt. Ohne Phoebe wäre das Leben nur schwer zu meistern.

Jessica Ehrhardt ist 36 Jahre alt. Biologin. Jemand, der weiß, wie kostbar das Leben ist. Und wie wichtig ein sorgsamer Umgang damit ist. Sie ist ein Mensch, der immer auf sich geachtet hat. Sie hätte nie damit gerechnet, dass ausgerechnet sie von einer unheilbaren Krankheit betroffen sein könnte. Doch eines Morgens kam der Schwindel.

Jessica Ehrhardt erinnert sich noch genau an jenen Tag 2003. Die damals 25-Jährige hat sich auf einen Studienplatz für Biologie an der Universität Hamburg beworben. Eine Ausbildung zur Krankenschwester hat sie bereits hinter sich. Aber sie möchte mehr. Als sie den Brief der zentralen Vergabestelle für Studienplätze aus dem Briefkasten nimmt, beginnt sich die Welt um sie herum plötzlich zu drehen. „Die Aufregung“, denkt sie, versucht sie sich zu beruhigen. „Das geht vorbei.“

Doch die Schwindelanfälle begleiten sie schon seit längerer Zeit. Erst nur beim Liegen, dann auch zwischendurch. Wenn sie beim Fernsehen die Bilder scharf sehen will, muss sie sich ein Auge zuhalten. Jessica Ehrhardt ahnt, dass etwas mit ihr nicht stimmt. Einen Arzttermin aber schiebt sie vor sich her. Insgeheim hofft sie, dass es von allein besser wird.

Es wird nicht besser. Hinzu kommt, dass sie ständig das Gefühl hat, auf die Toilette zu müssen. Doch die Blase entleert sich erst nach langen fünf Minuten. Irgendetwas stimmt nicht mit der Muskulatur. Im Frühjahr 2003 lässt sie schließlich ein CT machen. Nach zwei Wochen kommt der erlösende Anruf. Die Ärzte haben Antikörper gegen Borrelien in ihrem Blut gefunden. „Eine Borreliose, das kriege ich in den Griff“, denkt sie. Sie bekommt Antibiotika intravenös. Die Medikamente schlagen an. Doch die Symptome bleiben.

2004 lässt sie sich erneut untersuchen. Die Diagnose des Arztes ist niederschmetternd. Es ist Multiple Sklerose, kurz: MS.

Multiple Sklerose trifft vor allem junge Erwachsene. Die Krankheit befällt das zentrale Nervensystem, schädigt die Hüllschicht der Nerven. Die Symptome können sehr unterschiedlich sein. Sie können das Gehirn, das Rückenmark sowie die Sehnerven befallen.

Wie Multiple Sklerose genau entsteht, ist bis heute nicht vollständig geklärt. Ärzte vermuten, dass viele Faktoren zusammentreffen. Am häufigsten kommt MS in den kühlen Klimazonen vor (Mittel- und Nordeuropa, USA, Südkanada, Südaustralien, Neuseeland). In Deutschland leiden nach Schätzungen der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) etwa 120.000 bis 140.000 Menschen an einer Multiplen Sklerose.

Plötzlich ist Jessica Ehrhardt eine von ihnen. Sie weiß, was auf sie zukommen kann. Das hat sie während der Ausbildung zur Krankenschwester gelernt. Sie weiß, dass im Grunde jedes neurologische Symptom ausgelöst werden kann.

Und dass es eine Frage des Zufalls ist, wo die Krankheit bei ihr Spuren hinterlassen, welche Regionen sie befallen und wie lange sie dauern wird. Fest steht nur: Sie endet, wenn das Leben endet. Eine Chance auf Heilung gibt es nicht.

Inzwischen ist sie auf den Rollator, manchmal auf den Rollstuhl angewiesen

Der Arzt sagt zu ihr: „Na, Ihr Studium, das werden Sie wohl noch schaffen.“ Es trifft sie wie ein Messer. „Wie kann ein Mensch so etwas Unmenschliches sagen?“, denkt sie. Sie versucht, sich abzulenken. Stürzt sich ins Studium. „Für die Krankheit habe ich keine Zeit“, sagt sie sich. Sie versucht sich Mut zu machen, glaubt fest daran, dass sie nie im Rollstuhl landen wird.

Doch die Krankheit hat anderes mit ihr vor. Von Tag zu Tag ergreift sie mehr Besitz über den zierlichen Körper. Die Doppelbilder werden zur Regel. Ständig ist ihr schwindelig. Auch die Feinmotorik lässt nach. Wenn sie einen Stift greifen will, fangen die Hände so stark an zu zittern, dass sie ablegen muss. Ans Schreiben ist schon lange nicht mehr zu denken. 2006 trennt sich ihr Freund nach elf Jahren Beziehung von ihr. Kurze Zeit später stirbt ihr damaliger Hund Boya. Sie verliert ihre Wohnung. Welten brechen zusammen. Jessica Ehrhardt denkt an Selbstmord. Sie wird in die Klinik Ochsenzoll eingewiesen, macht eine Therapie. Und lernt, mit der Krankheit zu leben.

Längst hat sie ihr Studium beendet und arbeitet an ihrer Doktorarbeit. Es geht um Straßenbäume und den Einfluss von Klimaerwärmung auf diese. Sie hat eine Doktorandenstelle am Biozentrum Klein Flottbek, direkt beim Botanischen Garten. Und sie hat sich im November einen neuen Hund angeschafft: Phoebe. Das Tier ist ihre größte Stütze. Jeden Tag sind die beiden unterwegs. An guten Tagen nimmt Jessica Ehrhardt den Rollator. An schlechten den Rollstuhl. Einmal in der Woche geht sie mit Phoebe zum Assistenzhunde-Training. Die Hündin soll lernen ihr zu helfen, wo Hilfe notwendig ist. Zum Beispiel, wenn ihr etwas aus der Hand fällt und sie es nicht aufheben kann. Dann kommt Phoebe, nimmt den Gegenstand vorsichtig ins Maul und reicht ihn ihrem Frauchen. Derzeit lernt die Hündin die Haustür mit ihrem Körper zu schließen.

Die Ausbildung geht über ein halbes Jahr und kostet 1770 Euro. Die Kosten dafür muss Jessica Ehrhardt allein tragen. Dass so etwas nicht von der Krankenkasse übernommen wird, ärgert sie sehr. „Eine bessere und kostengünstigere Hilfe gibt es doch gar nicht“, sagt sie.

Und darüber hinaus profitiert sogar die Allgemeinheit von Phoebe. Weil sie so gern Dinge aufhebt, beschränkt sich ihr Wirkungskreis nicht nur auf die häusliche Umgebung. „Wenn wir unterwegs sind, räumt Phoebe die Stadt auf“, sagt Jessica Ehrhardt. „Da bleibt kein Müll liegen.“