Schüler treffen auf Haftentlassene und lernen voneinander. Das ist der Schwerpunkt des neuen Jugendprojekts „Step!“ des Vereins Integrationshilfen

Mia hat noch nie mit einem Menschen wie André geredet. Sie hat noch nie einem wie Michael die Hand geschüttelt. Und sich bei jemandem wie Olaf (Name geändert) bedankt. Sie ist 17, geht zur Schule. Sie kennt Gefängnisse, Kriminelle, Diebstahl und Drogen aus dem Fernsehen. Aber sie hat sich bislang nicht näher mit beschäftigt. Jetzt sitzt sie mittendrin. Links André, 34 Jahre alt, haftentlassen nach 322 Tagen im Knast. Rechts Michael, haftentlassen, insgesamt 18 Jahre hinter Gittern. Und gegenüber Olaf, 46, acht Jahre eingebunkert. Sie haben geklaut und Drogen verkauft, andere betrogen und Autos gestohlen. Sie sind in Wohnungen eingestiegen und haben mit Besitztümern anderer gehandelt. Jeder der drei Männer ist ein Straftäter, der seine Haft abgesessen hat. Jetzt sitzen sie in einem Kreis von Schülern und erzählen ihre Geschichte.

Die Schüler der Stadtteilschule Eppendorf haben Projekttag. Und ihre Klassenlehrerin Christina Pehrs hat sich für die Mädchen und Jungs im Alter von 15 bis 18 Jahren etwas ganz Besonderes ausgedacht. Sie will, dass die Jugendlichen etwas fürs Leben lernen. Nicht von ihr, sondern von den Menschen, die authentisch erzählen können. „Step! Jugendliche treffen Haftentlassene“ heißt das Projekt des Vereins Integrationshilfen e.V., der sich um Straffällige und Wohnungslose kümmert. Es ist ein ganz junges Projekt. Die Klasse 10d ist eine der ersten, die dabei sein darf. Fünf Stunden haben sie sich Zeit genommen, um zuzuhören, Fragen zu stellen, eigene Gedanken zu entwickeln. Drei Haftentlassene sitzen im Kreis. Sie sind gekommen, um über ihr Leben zu erzählen, darüber, wie eine verkorkste Kindheit, die falschen Freunde, Gruppendruck und Perspektivlosigkeit zu Kriminalität und Absturz führen können. Und darüber, wie schwer es ist, auch nach abgesessener Haftstrafe wieder in die Gesellschaft zurückzufinden. Sie berichten von einem Stigma, das nie endet.

Michael ist einer von ihnen. Ein schmächtiger Typ mit schmalen Augen und langen, zum Knoten gebundenen Haaren. Er ist tätowiert am ganzen Körper. Es sind Spuren seiner Vergangenheit hinter Gittern. Er erzählt von seiner Kindheit, dem strengen Vater. Von Schlägen und fehlender Liebe. Davon, wie er mit 13 von Zuhause wegrennt, weil er es einfach nicht mehr aushält. Und dass er anfängt zu klauen, weil er keinen Cent in der Tasche hat. Er erzählt von der ersten Jugendstrafe, von den Regeln im Gefängnis und davon, wie allein ein Mensch sein kann, wenn er die Familie und alle Freunde verliert. „Plötzlich kommt man aus der Haft und steht auf der Straße. Und kein Mensch ist da. Und man weiß nicht, wohin man gehen soll. Also bleibt man auf der Straße. Und der Teufelskreis beginnt von vorn.“ Die Schüler machen sich Gedanken über Themen, die sonst nicht auf der Tagesordnung stehen. „Wer kümmert sich um einen da draußen?“, will Mia wissen. „Lernt man aus seinen Fehlern?“, fragt Dalia, 15. „Hättest du nicht geschickter sein können bei deinen Straftaten?“, fragt Sascha.

„Es gibt kein perfektes Verbrechen“, sagt André. Er saß wegen Scheckbetruges im Gefängnis. Seine Oma wollte seine Schulden begleichen und ihn da rausholen. Er aber lehnte ab. „Ich wollte nicht, dass meine Familie für meine Schandtaten büßt“, sagt er. Und weiter: Er habe nachgedacht. „Dazu wird man gezwungen, wenn man 23 Stunden am Stück eingesperrt ist“, sagt er. „Ich habe begriffen, dass ich mein Leben ändern muss.“ Nur dass das nicht so einfach ist, wie die Schüler an diesem Morgen lernen. Weil die meisten Haftentlassenen wieder in die alten Muster fallen, zurückgehen zu den falschen Freunden, zurück zu den Drogen. „Ohne Wohnung findest du keine Arbeit. Und ohne Arbeit bekommst du keine Wohnung“, sagt Michael. Irgendwo aber müsse man doch anfangen, sagt einer der Schüler. „Ja“, sagt Michael. „Du kannst dir helfen lassen.“

Er hat das auch getan. Weil er irgendwann begriffen hat, dass er alleine da nicht rauskommt. Über das Projekt „Trotzdem“ des Vereins Integrationshilfen hat er eine Wohnung bekommen. Übergangsweise. So lange, bis er eine eigene Wohnung findet. Auch Olaf hatte zunächst Glück. Über den Verein bekam er einen Wohnsitz, schließlich Arbeit in einer Großküche. Vor einem Jahr verletzte er sich an der Achillessehne. Kurze Zeit später war er seinen Job los. Hunderte von Bewerbungen hat er inzwischen geschrieben. „Alles nur Absagen“, erzählt er. „Wenn du einmal straffällig bist, hast du kaum noch Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Das ist die Wahrheit.“ Die Schüler sind geschockt. Wie kurz der Weg sein kann ins gesellschaftliche Abseits, darüber haben sie sich vorher keine Gedanken gemacht. Unter Anweisung von Moderator Richard Osterhabe schreiben sie auf, welche Stärken und Fähigkeiten sie brauchen, damit sie vor einer Inhaftierung geschützt sind und welche sie mitbringen. „Die richtigen Freunde“, notiert Anil, 17. Eine liebevolle Familie, den Glauben, ein Zuhause, Ziele. „Und Disziplin“, sagt Klassenlehrerin Christina Pehrs. „Nur wer sich immer wieder motiviert und zusammenreißt, kann ein gelingendes Leben führen.“

Vier Stunden dauert der Workshop. Er ist eine Bereicherung für die Schüler wie für die Haftentlassenen. Sie fühlen sich gebraucht, sind wichtig mit dem, was sie zu sagen haben. „Sie wissen, dass sie eine soziale Verantwortung übernehmen, indem sie aufklären“, sagt Wolfgang Henkel. Der 70-Jährige hat gemeinsam mit seinem Vereinskollegen Karlheinz Ohle das Projekt ins Leben gerufen. Weil er mithelfen will zu verhindern, dass junge Menschen in kriminelles Milieu abgleiten. „Wir wollen die Schüler auf einen guten Weg bringen, die Folgen der Haft aufzeigen, diskutieren und Konsequenzen darstellen“, sagt er. „Wir wollen ihnen klarmachen, wie gefährlich es sein kann, sich in einer Gruppe von Freunden zu Dingen überreden zu lassen, die man eigentlich gar nicht möchte. Und wie wichtig es ist, Nein zu sagen.“ Olaf hätte was darum gegeben, einen solchen Workshop in seiner Jugend besuchen zu können. Er war 15, als er das erste Mal in den Knast wanderte. Er weiß, wie brutal es dort zugehen kann. Und wie unendlich allein sich ein Mensch fühlen kann. Es sind Jahrzehnte vergangen, bis er endlich wieder auf die gerade Bahn zurückgekehrt ist. Zu den Jugendlichen sagt er zum Abschied: „Danke, dass ihr mir zugehört habt. Ihr habt mir gezeigt, dass es auch anders geht.“

Infos: www.integrationshilfen.de, Tel. 3195705