In der Schule Böttcherkamp am Osdorfer Born gehört Zirkus für die Zehntklässler zum Unterricht. Das Projekt verbindet Handwerk, Kunst und Berufsorientierung, und die Schüler werden dadurch selbstbewusster.

Er war einer von denen, die man Problemkind nennt. Schwer erziehbar. Aggressiv. Einer, der nicht wusste, wo die Faust aufhört und die Nase des anderen anfängt. Es gab Tage, da hing er nur in der Schule rum. Bocklos, frustriert. Manchmal genügte ein blöder Satz, und er rastete aus. Die Lehrer hätten ihn aufgeben können. Sie hätten wegschauen können. Oder verzweifeln. Sie taten das Gegenteil. Als Julian mit zwölf Jahren auf die Schule Böttcherkamp wechselte, war er ein Schläger. Heute, vier Jahre später, sagt sein Chef über ihn, er sei ein friedfertiger, absolut zuverlässiger Mitarbeiter mit einer hohen Frustrationsschwelle. Einer, dem man auch schwierige Aufgaben anvertrauen kann, der anpackt, sich etwas zutraut. Wenn man Julian fragt, sagt der 16-Jährige: „Ich habe begriffen, dass schlagen nichts bringt. Und ich mag es, anderen zu zeigen, was ich kann.“

Ein Satz, der nicht vielen der Jugendlichen in der großen Wohnsiedlung Osdorfer Born im Hamburger Westen über die Lippen geht. Viele Kinder, die in diesem sozialen Brennpunkt aufwachsen, kommen aus strukturschwachen Familien.

Die Jugendarbeitslosigkeit im Verhältnis zum Rest Hamburgs ist überdurchschnittlich hoch. Woher also Motivation nehmen? Wofür brennen?

Diese Frage hat sich auch Heidi Bistritzky gestellt, als sie 2007 die Leitung der Schule Böttcherkamp übernahm. „Wie können wir Schüler mit so unterschiedlichen Bedürfnissen so gut unterstützen und fördern, dass sie Abschlüsse schaffen und erfolgreich im Leben bestehen? Sie dort packen, wo sie ihre Stärken spüren.“ Das zu erreichen war ihr ein Anliegen. Heidi Bistritzky war klar, dass es sich um ein niedrigschwelliges Angebot handeln muss. Etwas, das spielerisch Kompetenzen vermittelt und fördert.

Gemeinsam mit dem Stadtteilzirkus Abrax Kadabrax entwickelte sie das Projekt „Lebenskunst und Berufsorientierung“, das Unterricht, Kunst, handwerkliche Arbeit, Berufspraktika und interkulturelle Angebote zu einem „Lebenslabor“ verbindet. Dabei werden wichtige Schlüsselkompetenzen für den Übergang von Schule in das Berufsleben gefördert. Zirkus, Tanz, Kostüm, Bühnenbild und ein Videostudio sind fester Bestandteil des Regelunterrichts geworden. „Jugendliche Schüler zwischen 15 und 18 Jahren, meist mit Migrationshintergrund, lernen, selbstbewusst ihr Leben in die Hand zu nehmen und gemeinsam ein Ziel zu verfolgen“, sagt Heidi Bistritzky, die seit einem Jahr auch die Leitung des Regionalen Bildungs- und Beratungszentrums ReBBZ innehat, unter dessen Dach die Angebote der Förder- und Sprachheilschulen sowie der Regionalen Beratungs- und Unterstützungsstellen (REBUS) zusammengeführt sind.

Jeden Montag und Donnerstag arbeiten die Schüler der zehnten Klasse jeweils vier Stunden an ihrer Aufführung. Dieses Jahr geht es rund um das Motto „Surfen“. Das erarbeitete Thema fließt zudem in den Unterricht ein. Hinzu kommen zwölf Intensivwochen sowie sechs Aufführungen. Die Erfahrungen prägen die Teilnehmer. „Ich war unglaublich aufgeregt und unsicher am Anfang. Ich habe dann aber das Gruppengefühl gespürt und gemerkt, dass die anderen auch nicht zaubern, sondern einfach nur hart arbeiten. Und das kann ich auch“, sagt Florian. „Seit wir Zirkus machen, traue ich mir viel mehr Sachen zu, auch außerhalb vom Zirkus“, sagt Alexandra. „Hat man Angst, helfen einem die anderen“, sagt Sergen. „Und ich habe erfahren, dass ich talentiert bin.“ Sabrina, die besonders talentiert am Trapez ist, findet, dass sie durch das Projekt selbstbewusster geworden ist. Die 16-Jährige, die nie „Bock auf die Schule hatte“, sagt heute: „Ich gehe jetzt gern in die Schule. Und ich will unbedingt meinen Abschluss schaffen.“

Heidi Bistritzky freut sich über jeden Schüler, der hier seinen ersten Abschluss macht. Das aber sei nicht vorrangiges Ziel. „Wichtiger ist, dass wir die Kinder und Jugendlichen stabil machen, ihnen zeigen: Du kannst etwas, du bist wertvoll.“ Es gehe um die Hebung der Frustrationsgrenzen. „Wer 1000-mal einen Ball jongliert hat, gibt nicht so schnell auf. Und wenn die Schüler lernen, sich etwas zuzutrauen, und erfahren, dass es gelingt, haben wir viel erreicht.“

Wichtigstes Lernziel des Projektes ist der „Kompetenznachweis Kultur“. Dieser Bildungsspaß wird an Jugendliche vergeben, die aktiv an künstlerischen und kulturpädagogischen Angeboten teilnehmen, und unterstützt Jugendliche beim Einstieg in das Berufsleben. Der Zirkus sei für diese Erfahrungen der beste Rahmen.

Inzwischen haben 60 Jugendliche beim Zirkus-Projekt mitgemacht. Im Sommer wurde es mit dem Preis „Kinder zum Olymp“ ausgezeichnet. Dabei handelt es sich um einen bundesweit ausgeschriebenen Preis, den Schulen gewinnen können, die mit Kultureinrichtungen kooperieren.

Julian ist einer von den Schülern der vergangenen vier Jahrgänge, die durch das Projekt nicht nur selbstbewusster geworden sind, sondern sogar ihren Abschluss geschafft haben. „Damit habe ich nie gerechnet“, sagt er. Inzwischen hat er einen Ausbildungsplatz in einer Straßenbaufirma. Drei Jahre dauert die Ausbildung. Er ist zufrieden mit seinem Leben – nur den Zirkus, den vermisst er schon manchmal.