Wenn Vater oder Mutter schwer erkranken, machen sich Unsicherheiten bei den Kindern breit. Die Beratungsstelle phönikks hilft den Betroffenen und ermutigt sie, über die Krankheit zu sprechen.

Jasper fühlt sich heute prima. Der kleine Junge grinst in die Runde. „Ist doch klar, dass es mir gut geht“, setzt er dann zur Erklärung an. „Ich muss heute schließlich nicht in die Schule.“ Es ist ein sonniger Herbsttag. Auf dem dunklen Teppich im zweiten Stock des Stiftungshauses an der Kleine Reichenstraße 20 haben sich die Kinder versammelt. Sie sitzen im Kreis. Heute sind sie zu sechst. Max sagt: „Mir geht es heute superklassetoll. Die Sonne scheint.“ Ina schüttelt den Kopf. „Mir geht es ganz ok. Wir mussten Mama am Sonnabend ins Krankenhaus bringen.“ Lukas grinst. „Ich fühl mich gut. Wir haben am Wochenende ein Fußballspiel gewonnen.“ Für einen Moment ist die Welt in Ordnung. Die Kinder werfen sich einen Aufgabenball zu. Jasper muss einen ruhigen Ton summen, Max sich krumm machen und Tobias jemanden anlächeln. Dann möchte Ben eine Frage loswerden: „Warum sind eigentlich mehr Mamas als Papas an Krebs erkrankt?“ Bettina Rakers notiert die Frage auf einem kleinen Zettel. „Wir werden das klären“, sagt sie.

Es ist ein gewöhnlicher Dienstagmorgen in Hamburg. Menschen hetzen in die U-Bahnen, Herren in dunklen Anzügen verschwinden in den Bürohäusern. Touristen machen Bilder vom Rathaus. Der Himmel ist blau. Für die Kinder in der Kleine Reichenstraße ist es ein guter Tag. Einer, an dem sie lachen dürfen. Und wütend sein. Und traurig. Und wieder fröhlich. Ein Tag, an dem sie sich nicht zurückhalten müssen, damit sie ihren Eltern nicht zusätzlich Sorgen machen. Es sind Stunden, in denen sie einer von vielen sind. Jasper ist neun, sein Vater hat Krebs. Max ist elf, seine Mutter hat Krebs. Ina ist acht, ihre Mutter hat Krebs. Ben ist acht, seine Mutter hat Krebs. Tobias ist sieben, sein Papa hat Krebs. Lukas ist sieben, seine Mama hat Krebs. Die Kinder wissen, was das heißt. Krebs kann zum Tode führen. Sie kennen die Nebenwirkungen einer Chemotherapie, haben erlebt, wie Mama oder Papa die Haare verloren oder Blut gespuckt haben. Manchmal sind die Eltern zu schwach, um aufzustehen. Die Kinder versuchen dann stark zu sein. Doch es gibt Momente, da ist die Angst riesig. Und es gibt Momente, da ist alles vergessen. Kinder leben viele kleine Leben.

Bettina Rakers, Psychotherapeutin für Kinder- und Jugendliche, und ihre Kollegin Silke Meier, Psychologische Psychotherapeutin, erleben das immer wieder. Sie arbeiten bei phönikks. Die Stiftung betreut Familien mit krebskranken Kindern, mit erkrankten Eltern und Familien, die krebskranke Angehörige verloren haben. Gegründet wurde sie vor 27 Jahren von Christl Bremer. Damals war phönikks ein Pionier bei der psychosozialen Nachsorge. „Heute stößt unser Konzept auf Anerkennung und findet Nachahmer. Geblieben sind unsere Abhängigkeit von Spenden und die wachsende Nachfrage“, sagt die Vorstandsvorsitzende. Von 2011 auf 2012 ist die Zahl der Betreuten von 331 auf 404 gestiegen. Jährlich werden in Hamburg rund 1000 Familien mit der Diagnose konfrontiert.

Es kommen Menschen, die Hilfe brauchen bei der Bewältigung von Angst, Trauer, Mutlosigkeit. Menschen, die von einem Moment auf den anderen vor einer ungewissen Zukunft stehen. Dazu gehören die Erkrankten genauso wie die Angehörigen. „Beide Seiten brauchen professionellen Beistand“, sagt Rakers. Und so kommen einerseits die erkrankten Elternteile zum Gespräch, auf der anderen Seite die Kinder. Jede Woche gehen sie einmal für eineinhalb Stunden in die Gruppe. An manchen Tagen geht es um Fakten, darum, was Krebs überhaupt ist. Es geht darum, Fragen zu beantworten und Ängste zu nehmen. Weil es vorkommen kann, dass sich die Kinder schuldig fühlen für das, was Zuhause passiert.

Wie gut die Kinder die Erkrankung des Elternteils verkraften, hängt laut Silke Meier wesentlich davon ab, wie offen in der Familie mit dem Thema Krebs umgegangen wird. „Kinder sollten keinesfalls über Dritte erfahren, dass Vater oder Mutter schwer erkrankt ist“, so die Psychologin. Sie sollten darüber vielmehr von ihren Eltern informiert werden, und man sollte ihnen erklären, was die Erkrankung und auch ihre Behandlung für die Familie bedeuten. „Sie spüren sowieso, wenn Eltern belastet sind und Sorgen haben.“ Ist ein solches Gespräch nicht möglich, hilft phönikks. „Wir führen Gespräche gegen die Angst, und zwar mit den Eltern und den Kindern“, sagt Silke Meier. Die Eltern werden dabei ermutigt, mit ihren Kindern offen zu sprechen und ihnen die Erkrankung zu erklären.

„Eine Krebsdiagnose stellt das Familienleben auf den Kopf“, sagt Rakers. „Kinder reagieren manchmal still oder aggressiv. Sie wollen vielleicht nicht über die Krankheit reden.“ Und manchmal eben doch. An diesem Vormittag haben die Kinder sich in der Asklepios Klinik Barmbek angemeldet. Oberarzt Dr. Norbert Brüllke von der onkologischen Ambulanz hat sich Zeit genommen. Die Kinder dürfen Fragen stellen über eine Krankheit, die ihr Leben mitbestimmt. „Mein Papa hat einen Tumor im Kopf“, sagt Jasper. „Und er hat häufig Nasenbluten. Woher kommt das?“, will der kleine Junge wissen. „Warum stirbt man an Krebs?“, fragt er weiter. „Erklären Sie uns, wie eine Bestrahlung funktioniert“, fordert Ina den Arzt auf. „Und warum wird einem dabei übel?“ Die Kinder bekommen ihre Antworten, dann gehen sie in die Onkologie. Dr. Brüllke zeigt, wie Ultraschall funktioniert, wie Krebszellen unter dem Mikroskop aussehen. Die Kinder finden das spannend. Die Krankheit wird für sie begreifbarer und besser zu händeln.

Drei Stunden dauert der Besuch. Dann werden die Kinder abgeholt. Es geht zurück nach Hause. Zum Fußballtraining. Oder ins Krankenhaus. „Vielleicht besuche ich meine Mutter“, sagt Ina. „Vielleicht auch nicht.“ Das kleine Mädchen mag Krankenhäuser nicht besonders. Aber phönikks findet sie gut. Ein bisschen stolz ist sie schon, dass sie jeden Dienstag kommen darf. Weil sie hier Freunde gefunden hat, Menschen, mit denen sie teilen kann. „So makaber das klingt“, sagt Bettina Rakers, „Krebs ist bei uns die Eintrittskarte.“ Ina hat so eine „Eintrittskarte“. Doch noch lieber wäre es ihr, wenn sie irgendwann nicht mehr kommen darf. Weil ihre Mutter den Krebs besiegt hat.