Rund 25.000 Kinder in Deutschland leiden unter der Stoffwechselstörung. Hanna Kastendieck erzählt, wie Svenja Böse ihr Schicksal meistert.

Manchmal stellt sich Kristine Böse vor, was gewesen wäre, wenn. Wenn sie damals mit ihrer 18 Monate alten Tochter nicht zur Impfung gegangen wäre. Wenn das Mädchen kaum 24 Stunden später nicht so hoch gefiebert hätte. Wenn es diesen schrecklichen Fieberkrampf nicht gegeben hätte. Und die Mutter nicht den Notarzt gerufen hätte. Svenja wäre dann nicht sofort in die Klinik gekommen. Die Ärzte hätten ihr kein Blut abgenommen. Die Diagnose wäre vielleicht zu spät gestellt worden.

"Wir hatten damals Glück im Unglück", sagt Kristine Böse. Denn nur durch den Klinikaufenthalt erfahren die Eltern, dass ihre Tochter schwer krank ist. Svenja hat Diabetes Typ 1. Ihre Bauspeicheldrüse produziert nicht genügend Insulin, dieses lebenswichtige Hormon, das dem Körper hilft, Zucker aus dem Blut in die Zellen zu bringen. Fehlt das Hormon, sammelt sich der Zucker im Blut. Ist der Blutzucker zu hoch, können Nerven absterben.

Die Diagnose trifft die Eltern unverhofft. Weil es keinen Fall von Diabetes in der Familie gibt. "Da sagt eine Krankenschwester lapidar: 'Übrigens, Ihre Tochter hat Diabetes.'" So als ginge es um das Wetter. "Von jetzt auf gleich muss alles anders laufen", sagt die Mutter. Innerhalb von Stunden lernen die Eltern, Blutzucker zu messen, Insulin zu spritzen und ihrem Kind vor jeder Mahlzeit Schmerzen zuzufügen.

Für die Familie ist seit diesem 13. April 2005 nichts mehr wie vorher. "Uns ist im wahrsten Sinne des Wortes der Appetit vergangen", sagt Stefan Böse. "Weil jede Mahlzeit uns die Krankheit unserer Tochter vor Augen führt." Doch den Eltern bleibt keine Wahl. Sie müssen spritzen. Eine falsche Dosierung, einmal vergessen und die Folgen wären fatal. Svenja könnte eine Unterzuckerung erleiden und dann nicht mehr adäquat reagieren.

Svenja ist heute neun Jahre alt. Ein fröhliches Mädchen mit Zöpfen. Was für ihre Eltern damals ein Schock war, ist für die Kleine ein selbstverständlicher Teil ihres Lebens. Ein Tag ohne Blutzuckerselbstkontrolle mit einem Stich in den Finger, ohne Berechnung der Essensmenge und der erforderlichen Impfdosis - für Svenja unvorstellbar. Sie managt ihre Krankheit fast ganz allein. Statt der Spritzen befördert nun eine Pumpe per Katheter die Insulinmenge in die Blutbahn. So braucht die Viertklässlerin nur noch die Menge zu berechnen und zu jeder Mahlzeit per Knopfdruck den Befehl zur Insulinabgabe zu geben. Doch Svenja muss nicht nur beim Essen aufpassen. Auch Sport, Aufregung, Freude, Änderungen im Tagesrhythmus beeinflussen den Zuckerstoffwechsel. Doch wie soll ein Kind planen, wann es sich bewegt? Wie sollen Freude und Ärger kontrolliert werden? "Einmal zu viel geärgert, einmal zu viel gefreut, und schon stimmt der Blutzuckerwert nicht mehr", sagt Kristine Böse. Und so hat Svenja immer ein paar Traubenzucker in der Tasche.

Inzwischen erkennt auch Svenja die kleinen Zeichen, die ihr Körper sendet, wenn der Blutzucker nicht stimmt. "Ich bekomme dann Kopfschmerzen, werde wackelig und müde", sagt sie.

Damit Svenja noch sicherer im Planen ihrer Mahlzeiten wird, geht die Neunjährige zur Diabetesschulung ins Altonaer Kinderkrankenhaus. Rund 380 Kinder und Jugendliche mit Diabetes werden hier jedes Jahr betreut. Und es werden von Jahr zu Jahr mehr. "Diabetes ist im Kindes- und Jugendalter eine der häufigsten chronischen Erkrankungen", sagt Fachärztin Ulrike Menzel. "In der Altersgruppe bis 19 Jahre leiden in Deutschland etwa 25 000 Kinder an Typ-1-Diabetes." Die Neuerkrankungsrate steigt jährlich um drei bis vier Prozent. Warum, wissen die Experten nicht. Viele Eltern erfahren erst in der Klinik, woran ihr Kind leidet. Im Nachhinein wird ihnen dann vieles klar. Dass ihr Kind besonders viel getrunken hat. Dass es müde und schlapp war und häufiger als sonst zur Toilette musste. Alles Anzeichen für eine Erkrankung.

Auch die Böses haben erst später begriffen, dass diese Symptome bei Svenja vorhanden waren. "Im Nachhinein ist man schlauer", sagt die Mutter. Sie weiß auch, dass Svenjas Krankheit nicht genetisch bedingt ist. Also haben sie sich für ein zweites Kind entschieden. Janna ist heute fünf. Manchmal misst sie zum Spaß ihren Blutzucker. Die Werte sind völlig normal.