Reiner Kluge ist ehrenamtlicher Hospizbegleiter. Er kümmert sich um den 15 Jahre alten Roman, der unheilbar erkrankt ist.

Das Bild bedeckt die ganze Wand des kleinen Raumes. Irgendjemand hat sich irgendwann einmal die Zeit genommen, die Szene aus Walt Disneys Dschungelbuch zu malen. Selig grinsend treibt der dicke Bär Balu auf dem kleinen See unter Palmen. Auf seinem Bauch liegt sein Freund Mogli. Der kleine Junge fühlt sich sicher und geborgen in der Nähe seines großen Freundes. Unter dem Bild steht ein Krankenbett, steril abgedeckt unter einer großen Folie. Daneben sitzen an einem Tisch Roman, 15 Jahre alt, und sein großer Freund, Reiner Kluge. Jede Woche kommen die beiden für vier Stunden in die Kindernotaufnahme des UKE. Roman ist schwer krank. Er wird in absehbarer Zeit sterben. Es ist ein Sterben auf Raten.

Roman leidet an Mukopolysaccharidose, kurz MPS. Eine Stoffwechselkrankheit, die selten ist. Und unheilbar. Romans Körper fehlt ein bestimmtes Enzym, sodass sein Körper lange Ketten von Zuckermolekülen, aus denen das Bindegewebe gebildet wird, nicht abbauen kann. Roman sitzt im Rollstuhl. Er hat eine Kanüle im Hals, durch die er nachts beatmet wird. Regelmäßig muss eine Krankenschwester Schleim absaugen. In seinem Herzen sitzt ein Port, durch den die lebenserhaltende Infusion in den Körper gelangt. Jeden Freitag von 9 bis 13 Uhr wird Roman im UKE, Zimmer 28, dem "Mogli-Zimmer", an die Infusion angeschlossen.

Roman muss kommen, weil er sonst sterben würde. Und Reiner? "Ich will kommen, weil ich Roman begleiten möchte. Ich will für ihn da sein, ihn unterstützen, Mut machen und halten." Reiner ist nicht zufällig in Romans Leben getreten. Sondern ganz bewusst. Er ist ehrenamtlicher Hospizbegleiter des ambulanten Kinderhospizdienstes "Familienhafen". Einer von rund 50 "Lotsen", die in über 30 Familien in Hamburg und Umgebung im Einsatz sind. Menschen, die für andere da sein wollen. Die nicht wegschauen, wenn Familien Hilfe brauchen, sondern anpacken und zuhören, spielen und vorlesen. Menschen, die sich kümmern. Die stark sind, wenn andere schwach werden. Die Mut machen, wenn andere verzweifeln. Und die nicht gehen, wenn die Krankheit immer belastender wird und das Ende absehbar ist. Sondern bleiben. Etwa 500 Kinder in und um Hamburg sind unheilbar erkrankt. Bundesweit sind es etwa 22 600. Viele von ihnen sind auf der Suche nach einem Menschen, der sie unterstützt. Der Bedarf ist riesig. Das Angebot viel zu klein.

Also gründete die Hamburgerin Marita Hoyer vor fünf Jahren den Familienhafen. Dort werden Ehrenamtliche in der Hospizarbeit ausgebildet, die anschließend als "Lotse" in die betroffenen Familien gehen. Dort betreuen sie das kranke Kind, die Eltern, manchmal auch die Geschwisterkinder. Sie leisten Hausaufgabenhilfe, bringen die Kinder zur Schule, erledigen Einkäufe oder begleiten zum Arzt. Sie hören zu, trösten, geben Kraft. Und sie schaffen den Eltern stundenweise Freiräume, damit diese auch einmal für sich und ihre Bedürfnisse da sein können.

Reiner ist seit vier Jahren dabei. Damals konnte Roman noch gehen. Sein Tod aber war absehbar. Er würde sterben in ein paar Jahren. So viel stand fest. Die Eltern wandten sich an den Familienhafen. Sie waren auf der Suche nach einem Menschen, der sie, ihren Sohn und den jüngeren Bruder auf diesem Weg begleitet. Reiner Kluge war zu dem Zeitpunkt 64 Jahre alt, selbstständig. Er wollte seine Zeit neben dem Beruf für andere einsetzen. Also ging er zu einem der Infoabende vom Familienhafen. Und blieb. Er hat einen Kursus absolviert, 120 Stunden. Er hat gelernt, mit dem Tod anderer umzugehen.

Roman hat ihm von Anfang an gut gefallen. Die beiden verstehen sich einfach. "Wir haben den gleichen Humor", sagt Reiner. "Reiner ist mein Freund", sagt Roman. Und darum treffen sich die beiden auch außerhalb des Krankenhauses. Dann fährt Reiner Kluge von Eppendorf raus nach Buxtehude und holt den Jungen ab. Sie gehen gemeinsam Eis essen, zum E-Rolli-Hockey, sie spielen Kniffel, Playstation und machen gemeinsam Hausaufgaben. Sie sprechen über Fußball - und manchmal auch über die Zukunft. Was Roman einmal beruflich machen möchte, ob er eine Freundin haben wird, wie seine Krankheit verlaufen könnte? Es gibt so viele Fragen. Und manchmal hat auch Reiner Kluge, sein großer Freund, keine Antwort.

Es ist eine gute Zeit, die die beiden gemeinsam verbringen. Sie ist kostbar, weil begrenzt. Die Auseinandersetzung mit einem Kind, das schwer krank ist, könnte mutlos machen. Bei Reiner Kluge aber bewirkt sie das Gegenteil. Sie schärft das Bewusstsein für das Leben. "Ich nehme die Dinge intensiver wahr, genieße mehr, lebe bewusster", sagt er. Und vieles habe sich relativiert. Er selbst ist dem Tod schon einmal von der Schippe gesprungen. Vor 19 Jahren erkrankte er an Blutkrebs, bekam Chemotherapie und Eigenblut-Transfusionen. Er hatte Glück. Er konnte das Leben festhalten.

Roman wird das nicht gelingen. Er wird Stück für Stück an Kraft verlieren. Reiner Kluge wird bei ihm sein. Er wird mit ihm diesen Weg gehen. So wie Balu, der Bär, im "Dschungelbuch" bei seinem Freund Mogli bleibt. Er wird mit ihm Spaß haben, er wird mit ihm lachen. Er wird ihn halten. Er wird ihm Geborgenheit und Nähe vermitteln. Und stark sein wie ein Bär, wenn Roman irgendwann sterben wird. Er weiß, dass er mehr nicht tun kann.