Mutmacher Sabine Niese hat ALS, eine unheilbare Lähmung. Statt zu verzweifeln, kämpft die dreifache Mutter für die Erforschung der Krankheit

Manchmal fühlt sie sich wie ein Regentropfen. Einer, der vom Weg abgekommen ist, als er mit vielen Millionen anderen zur Erde hinabfiel. Er ist nicht, wie diese, in einem Fluss gelandet, sondern abseits. Langsam versickert er im Erdreich, immer tiefer hinab, während die anderen weiterschwimmen. Sie findet keinen Halt.

Sabine Niese ist 37 Jahre alt. Kosmetikerin. Verheiratet. Sie hat drei Söhne, Christian, 17, Steffen, 14, und Gabriel, 8. Es gibt Tage, da stellt sie sich vor, wie es sein wird, wenn diese ihr Abitur machen, heiraten, eine Familie gründen. Dann ist sie glücklich für einen Moment. Und gleichzeitig verzweifelt, weil sie weiß, dass sie mit ziemlicher Sicherheit nicht mehr dabei sein wird. Sabine Niese hat ALS, Amyotrophe Lateralsklerose. Zwei Jahre hat sie noch zu leben. Das sagt die Statistik. Sabine Niese sagt: "Es gibt Ausnahmen."

Sie sagt das, wenn ihre Kinder fragen: "Wie lange noch, Mama?" Sie sagt das, wenn sie darüber nachdenkt, was sie noch alles erleben möchte. Und was sie noch tun will, um anderen Betroffenen zu helfen. Sie hat so viele Ideen. Sie will an den Tod nicht denken.

"Ich habe keine Zeit, schwach zu sein", war ihr erster Gedanke, als die Ärzte im April 2009 die Diagnose stellen. Vier Monate zuvor ist Sabine Niese noch eine kerngesunde Frau mit einem ganz normalen Leben. Sie hat einen eigenen Kosmetiksalon, ihr Mann Jörg ist selbstständig, arbeitet als Musiker und leitet ein Marketingunternehmen. Die beiden haben ein Haus gekauft mit Garten für die drei Jungs. Sie sparen viel, um die Immobilie abzuzahlen. Später, wenn es besser läuft, wollen sie gemeinsam in den Urlaub fahren. Sie denken, was alle Menschen denken: "Wir sind jung. Wir haben ja noch so viel Zeit."

Ende November 2008 fällt Sabine Niese auf, dass ihr Dinge plötzlich aus der Hand gleiten. Auch die Beine wollen nicht mehr so richtig. Die Spaziergänge mit den drei Hunden werden immer kürzer. Sie kommt kaum noch eine Treppe hoch. Der Arzt ist ratlos. Es könne was Psychisches sein, vermutet er. Sabine Niese müsse nur wollen. Sie will. Aber sie kann nicht.

Nach einem Aufenthalt in Damp verlässt sie Ende Januar 2009 die Klinik im Rollstuhl. Zunächst ohne Diagnose. Ihr Mann kümmert sich um die Jungs, übernimmt den Haushalt. Das Amt weigert sich, Unterhalt zu zahlen, bis klar ist, um welche Krankheit es sich handelt. Innerhalb von wenigen Wochen ist die Familie insolvent.

Sabine Niese könnte verzweifeln. Sehen, was nicht mehr ist. Sie tut das Gegenteil: Sie sieht, was ist. Und sie packt an. "Ich weiß, dass ich weniger Zeit habe als die anderen, aber ich habe noch Zeit." Die Krankheit bringt das Leben auf den Punkt. Sie weiß, dass ALS nicht heilbar ist. Dass der Tod schleichend kommt, sie irgendwann nicht mehr sprechen können wird, nicht mehr atmen. Aber sie glaubt fest daran, dass die Medizin eines Tages Behandlungswege findet. Und dass ALS dann nicht mehr eine tödliche Diagnose sein wird. Deshalb kämpft sie für die Erforschung dieser seltenen Krankheit in der Öffentlichkeit, bei den Politikern. Nicht für sich, sondern für die anderen. Für die vielen Tausend Menschen, die noch erkranken werden. "Es könnte auch meine Kinder treffen", sagt sie.

Ihr Engagement ist riesig, auch wenn die Mittel und Möglichkeiten begrenzt sind. Auf ihrer Internetseite www.hetzjagd-ins-licht.de hat sie alle Infos über ALS zusammengetragen. Sie hat Betroffene zusammengebracht und veröffentlicht fast täglich ein Online-Tagebuch, in dem sie von guten Erfahrungen erzählt, genauso wie von Rückschlägen und großer Angst. Sie hat mit ihrem Ehemann Jörg, Musiker und Komponist, eine CD mit eigenen Songs aufgenommen. Eine zweite ist in Arbeit. Ein Teil der Erlöse geht an die Karberg-Stiftung, die Forschungsprojekte im Bereich Polyneuropathien unterstützt.

Und sie hat ein Buch geschrieben, das im kommenden Jahr erscheinen wird. "Plötzlich behindert" lautet der Arbeitstitel. Es ist die Geschichte eines Menschen, der von heute auf morgen im Rollstuhl landet und das Leben aus einem völlig neuen Blickwinkel kennenlernt. Es ist ihre eigene Geschichte. Ein Buch zum Heulen - und zum Lachen. Weil dahinter eine Autorin steckt, die Sorgenfalten anderer mit ihrer positiven Lebenseinstellung wegwischt. "Nichts ist so schlecht, dass es nicht auch etwas Gutes hätte, das ist mein Lieblingsspruch", sagt sie.

Die Eltern haben sich fest vorgenommen, ihren Söhnen zu zeigen, dass es sich lohnt, zu kämpfen. Weil es auch bei einer Schlacht, die man nur verlieren kann, kleine Höhepunkte gibt. So wie diesen, als einer der Security-Mitarbeiter von Herbert Grönemeyer in ihrem Online-Tagebuch von ihrem Faible für den Superstar erfährt und spontan zwei VIP-Karten für ein Konzert zusendet. Oder die Reise "in den Rollstuhl-Himmel", nach Lanzarote, eine Spende von Radio Hamburg. 900 Fotos hat Sabine Niese von dieser Reise gemacht. Um jeden Moment festzuhalten. Es war der erste gemeinsame Urlaub. Es könnte der letzte gewesen sein.

Gedanken, die Sabine Niese nicht zulassen möchte. Sie will sich ihre Träume nicht nehmen lassen. In die USA wolle sie noch fliegen, weil man dort bei ALS viel weiter sei. Einen Prominenten finden, so ein "Stehaufmännchen wie Gunter Gabriel", der die Öffentlichkeit für diese Krankheit sensibilisiert. Und für 2013 plant sie eine Benefizveranstaltung, für die sie Künstler sucht und Sponsoren. Sie will den Menschen vermitteln, dass sie nicht an ihrem Leben vorbeilaufen dürfen. Sondern wahrnehmen müssen, was ist, und dafür dankbar sein. Weil ganz plötzlich nichts mehr selbstverständlich sein kann. Und das bis dahin Selbstverständliche nicht mehr nachzuholen ist. "Sagen Sie mir doch, wie es sich anfühlt, eine Treppe hinunterzugehen", bittet sie. "Ich habe es nie bewusst getan."