Ehrenamtliche Reporter des Fanclubs Sehhunde kommentieren für Sehbehinderte HSV-Spiele im Stadion. Ein toller Service für Fußballfans.

Hamburg. Minuten vor Anpfiff herrscht Gänsehaut-Stimmung. Die mehreren Zehntausend HSV-Fans in der Imtech-Arena singen "Hamburg, meine Perle", eine vierminütige Liebeserklärung an die Stadt und ihren Verein. Auch wenn die Vorbereitung mehr als mäßig verlief, herrscht im Block 3C gute Stimmung. Einer, der die Hymne am lautesten mitsingt, ist Rico Zellmer. Für ihn sind diese Zeilen ein Zeichen von Verbundenheit in schwierigen Zeiten - Verbundenheit zu seinem Verein, egal ob im Tabellenkeller oder an der Spitze. Als Elfjähriger war er das erste Mal im Stadion. "Mein Vater hat mich mitgenommen. Die Atmosphäre hat mich nicht mehr losgelassen", erklärt er und lächelt. Heute kommt der 47-Jährige zu fast jedem Heimspiel - eigentlich normaler Alltag unter Fußballverrückten. Doch Rico Zellmer ist blind.

Während der 90 Minuten tragen er und die rund 20 anderen sehbehinderten Fans Kopfhörer und lauschen einem Live-Kommentar. Der kommt von zwei Reportern, die mit Headset und Mikro eine Reihe vor ihnen sitzen. "Früher musste mir jemand aus der Familie das Spielgeschehen beschreiben. Der heutige Service ist dagegen natürlich eine große Erleichterung", erzählt Zellmer, der unter der Woche als Klavierstimmer arbeitet.

Den Part der Familienberichterstatter übernehmen inzwischen ehrenamtliche Kommentatoren unter Leitung von Broder-Jürgen Trede. Der Sportjournalist baute das HSV-Projekt im Rahmen eines Seminars am Institut für Sportwissenschaften der Uni Hamburg auf. "2003 kam der Verein Sehhunde auf den HSV zu und seitdem sind wir alle dabei", erinnert sich Trede.

Der Fanclub Sehhunde e. V. wurde 1991 von Regina Hillmann und Nina Schweppe in der Hansestadt gegründet. Beide Frauen sind selbst sehbehindert und große Fußballfans. Für ihr Engagement wurden sie bereits mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. "In fast allen Stadien der Ersten und Zweiten Bundesliga gibt es Plätze für Sehbehinderte und die Deutsche Fußball-Liga (DFL) unterstützt unsere Initiative mit klaren Vorgaben an die Vereine. Mit diesen Erfolgen können wir durchaus zufrieden sein", sagt Regina Hillmann, die wie ihre Kollegin auf 25 bis 30 Stadionbesuche pro Saison kommt. Zufrieden mit Erfolgen, das ist für Rico Zellmer sportlich gesehen eher ein seltenes Gefühl. Gerade ist der 1. FC Nürnberg durch ein Abstauber-Tor in der 68. Minute in Führung gegangen. Während die Abwehrspieler mit hängenden Köpfen in Richtung Mittelkreis trotten, schüttelt Zellmer nur den Kopf und spricht aus, was viele HSV-Fans denken. "Das kann ja wohl nicht wahr sein." Der Kommentator der Sehhunde verkündet derweil die Auswechslung von Stürmer Son Heung-min, in der letzten Saison noch Held im Abstiegskampf. "Der kleine Koreaner hat heute wenig bewegt, die Auswechslung kommt für mich zu Recht." Zellmer unterbricht den Reporter nur ganz kurz: "So klein ist der mit 1,84 doch gar nicht." Broder-Jürgen Trede sagt lächelnd: "Das Feedback der Fans kommt hier schnell und das Fachwissen ist immens." Ein Umstand, von dem alle Beteiligten profitieren. "Wenn mir etwas auffällt, sage ich das natürlich", sagt Rico Zellmer.

Auch wenn der 47-Jährige das Spiel nicht sieht, hat er eine klare Vorstellung von dem Spielgeschehen. Neben dem Kommentar nimmt er auch die Atmosphäre sehr genau wahr. Bei Torszenen wird das Stadion lauter und bei strittigen Fouls gibt es Pfiffe. "Manchmal sind uns die blinden Fans einen Schritt voraus", lacht Trede. "Rico Zellmer hat zum Beispiel einmal ,Schieß doch' gerufen, obwohl unser Kommentator die Strafraumsituation noch nicht vollständig beschrieben hatte."

Anders als im Radio ist die Spielreportage ein Gemeinschaftsprodukt, und das ist nicht der einzige Unterschied. Statistiken oder unnötige Anekdoten hört man hier nicht. "Im Radio gibt es Kommentatoren, wir sehen uns als Reporter. Wir müssen permanent das Spielgeschehen wiedergeben und verorten. Welcher Spieler mit welcher Nummer gerade den Ball spielt, ist weniger wichtig als seine Position auf dem Spielfeld", erklärt Broder. Aus diesem Grund wechseln sich die beiden Reporter alle drei bis vier Minuten ab. Ein Umstand, der auch Rico Zellmer sehr gefällt. "Im Vergleich zu anderen Stadien gehören die Reportagen beim HSV zu den besten." Vielleicht wird er auch deshalb in dieser Saison wieder bei fast jedem Heimspiel in Block 3C stehen, auch wenn seine Prognose eher pessimistisch ausfällt. "Sagen wir es mal so, viel schlimmer kann es eigentlich gar nicht mehr werden."

Infos zum Fanclub Sehhunde e. V. gibt es unter Telefon: 40 19 76 28 oder www.fanclub-sehhunde.de . Karten für die 20 Blindenplätze beim HSV können nur direkt über die Geschäftsstelle bestellt werden. Dazu die Nummer 01805/47 84 78 wählen, dann die "5" drücken. Auch beim FC St. Pauli gibt es 20 Blindenplätze. Karten bei Sven Brux, Tel.: 31 78 74 24 oder sven.brux@fcstpauli.com