Ein Traum aus Kindertagen wird wahr. Der Zirkuspädagoge Martin Kliewer baut für Menschen ab 60 ein Ensemble in Hamburg auf.

Heimlich hat er davon schon als kleiner Junge geträumt. In der Zirkusmanege zu stehen, im Licht der Scheinwerfer. Die Blicke des staunenden Publikums auf sich gerichtet. Er wollte die Menschen zum Lachen bringen, sie verzaubern, ihnen den Atem nehmen. Doch die Welt des Zirkus blieb für Wolfgang Strasser nur schöner Schein. Er wurde Fernmeldemechaniker, bekam eine Festanstellung in einem großen Hamburger Konzern und lebte sein Leben. Ganz formal. Er wurde 40, 50, 60, 65 Jahre alt. Er wurde Vater, Großvater und Rentner. Den Traum vom Zirkus hatte er längst aufgegeben.

Dann September 2011. Im Circus Mignon an der Osdorfer Landstraße 380 ist Vorstellung. Das Zelt ist voll besetzt. In der Manege dreht ein Mann 15 Teller gleichzeitig in der Luft. Die Zuschauer halten den Atem an. Dann der schallende Applaus. Er gilt dem Artisten, Wolfgang Strasser.

Es ist ein wohl deutschlandweit einmaliges Projekt, das der Hamburger Zirkuspädagoge Martin Kliewer mit dem SeniorCircus Mignon auf die Beine gestellt hat. Eine Show, bei dem der jüngste Teilnehmer 61, der älteste 83 Jahre alt ist. Das Projekt, das vor drei Jahren auf der Nordseeinsel Sylt ins Leben gerufen wurde, soll am 19. Oktober auch in Hamburg starten.

Senioren als Zirkusartisten? Eine 68-Jährige, die mit brennenden Reifen hula-hoppt, eine 83-Jährige, die auf dem Seil tanzt, ein Clown, der 77 Jahre auf dem Buckel hat? Das ist unvorstellbar. Und es ist unvorstellbar gut. Weil nämlich nicht die artistischen Höchstleistungen im Vordergrund stehen, sondern die Poesie, der Humor, die Inszenierung. Und der Weg das Ziel ist, wie Martin Kliewer, der sich durch seine künstlerische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in Hamburg einen Namen gemacht hat, immer wieder betont.

Ein Weg, bei dem die Teilnehmer lernen, dass das Altern nicht mit einer Zahl anfängt. "Und dass wir viel mehr können, als wir uns zutrauen", sagt Helga Hansen. Sie ist 65 Jahre alt und verkauft auf der Insel selbst gemachte Marmelade. Dreimal am Tag trainiert sie mit ihren Reifen. Und zweimal im Jahr steht sie in der Manege. Der Zirkus halte sie jung, sagt sie. "Spaß macht es." Den ganzen Sommer über haben die Sylter Senioren ihren Auftritt geprobt. Sie haben ausprobiert und Ängste überwunden. Manchmal haben sie ganz neue Seiten an sich entdeckt. So wie Inge Schadach, die 50 Jahre lang in Wenningstedt Ferienwohnungen vermietet hat und als die ersten "Wehwehchen" kamen in eine Seniorenresidenz nach Westerland zog. Dort angekommen, merkte sie plötzlich, dass sie viel mehr kann, als auf den Besuch ihrer Tochter zu warten. Sie hat sich beim Zirkus angemeldet. Und ist in die Rolle des Dummen August geschlüpft. Die Zuschauer lieben sie, weil sie die Menschen zum Lachen bringt, ohne albern zu sein.

Genau das ist oberstes Gebot für Martin Kliewer. "Dass sich niemand in der Show lächerlich macht." Mit Feingefühl für den Menschen, für seine Stärken und Talente sucht er die richtige Nummer für jedes Ensemblemitglied heraus. Einmal in der Woche wird für zwei Stunden gemeinsam geprobt. In der Show, die am 30. Dezember noch einmal bei der Kliffmeile in Wenningstedt auf Sylt zu sehen sein wird, wird das Alter unmittelbar thematisiert. Zwischen den einzelnen Nummern werden Dialogpassagen aus dem Buch "Der alte König in seinem Exil" von Arno Geiger nachgespielt. Darin beschäftigt sich der Autor mit seiner Beziehung zu seinem demenzkranken Vater, gespielt von Oda Steritz, 83 und ehemalige Sportlehrerin. Ihr Auftritt zeigt, dass Zirkus nicht nur Lachnummer und schöner Schein ist, sondern auch ernste Themen transportieren kann.

Die Teilnehmer selbst nehmen ihr Spiel sehr ernst. Weil der Zirkus sie herausfordert, an ihre Grenzen bringt. Und manchmal sogar ein Stückchen weiter. "Man lernt über sich hinauszuwachsen", sagt Wolfgang Strasser, der jeden Morgen nach dem Aufstehen erst mal ein paar Teller dreht. Und der weiß, dass er mehr kann. Der 69-Jährige hat sich Bälle gekauft. Er träumt davon, im nächsten Jahr in der Manege zu jonglieren. Martin Kliewer wird ihn dabei unterstützen. Weil er an die Menschen glaubt, und daran, dass jeder etwas Besonderes leisten kann. Auch Kliewer hat einen Traum: Er träumt davon, dass irgendwann im Circus Mignon alte und junge Artisten gemeinsam Zirkus und Musik machen, ohne dass die Jahre eine Bedeutung haben.