Ein großes Problem unserer Zeit breitet sich aus. “Es ist höchste Zeit zu handeln“, so der Experte

"Vielleicht lachen Sie mich aus, aber meine Einsamkeit ist so groß und schmerzhaft, ich kann sie kaum noch ertragen. Ich sehne mich nach seelischer Liebe und Zweisamkeit. Ich war schon als Kind sehr liebebedürftig, mit Angst vor dem Alleinsein. Aber meine Kindheit war lieblos, ich war unerwünscht und bekam das auch zu spüren, vor allem von meinem Vater.

Ich musste den Krieg erleben, die Flucht aus Ostpreußen, es folgte das Flüchtlingslager in Dänemark, ich habe alles verloren.

In Flensburg lernte ich meinen Mann kennen, erlebte zum ersten Mal, geliebt zu werden. Doch ich verlor ihn, er musste schon mit 37 Jahren 1967 an einem Gehirnschlag sterben. Seitdem geht es mir nicht gut, denn ich habe keine Verwandten mehr, ich habe die Hoffnung aufgegeben, dass ich allein aus dieser Ausweglosigkeit herauskomme. Das ist mein erster Hilferuf, es kostete Überwindung zu schreiben. Bitte antworten Sie mir. Barbara S., 78

Die Antwort gibt der Psychotherapeut Dr. Uwe Böschemeyer:

Zu den großen, schleichend sich entwickelnden Problemen dieser Zeit gehört die Einsamkeit. Sie breitet sich immer mehr aus. Daher wird es höchste Zeit, diese Tatsache zur Kenntnis zu nehmen.

Einsam ist, wer sich nach Menschen sehnt und keinen Menschen hat. Einsam ist, wer sich selbst ein Fremder ist. Einsam ist, wer im Leben nicht (mehr) zu Hause ist, weil er das Fremde in der Welt nicht mehr ertragen kann. Wer einsam ist, fühlt sich vom Leben getrennt. Dem tut das Leben weh. Wer einsam bleibt, kann letztlich nicht leben, weil Einsamkeit dem Wesen des Menschen widerspricht. Denn zum Menschsein gehört beides: Er ist ein Einzelner und ein auf Gemeinschaft Angewiesener.

Wer einsam ist, muss nach den Gründen fragen, vor allem danach, ob sie sein Schicksal sind oder ob er selber mit der Entwicklung zur Einsamkeit zu tun hat. Zweifellos gibt es Gründe, die schicksalhaft sind und die, wenn vielleicht auch nur für eine bestimmte Zeit, nicht beseitigt werden können, zum Beispiel, wenn ein geliebter Mensch gegangen ist. Wahrscheinlich aber sind die Gründe, die zur Einsamkeit führten, oft nicht schicksalhaft. Oft liegen sie auch in uns selbst, unter anderem darin, dass wir zu viel von anderen erwarten, dass wir uns selbst zu wenig mitteilen, dass wir zu wehleidig sind, dass wir uns selbst zu wenig mögen und daher auch andere nicht, dass keinem verborgen bleibt, wie wenig wir das Leben lieben, dass wir möglicherweise die Menschen und das Leben verachten.

Was es auch sei: Wer anfängt, sich ehrlich zu begegnen, wird manches in sich finden, was ihm verständlich macht, warum er einsam ist. Das könnte der Anfang sein für ein anderes, mitmenschliches Dasein.

Verständlicherweise resignieren nicht wenige Einsame, wenn sie auf längere Zeit keinen Ausweg finden. Resignation aber ist Abkehr von Hoffnung. Doch wer nicht mehr hofft, verschließt seine eigene Seele und wird seinen Mitmenschen fremd und immer fremder.

Das ist klar: Wer einsam ist, braucht Menschen. Und wenn tatsächlich niemand da ist, muss man zu jenen Helfern gehen, die dazu berufen sind, Auswege zu zeigen. Ich denke an die zahlreichen "Berater" unterschiedlicher Art in staatlichen und kirchlichen Gemeinden. Es ist nicht wahr, was manche sagen, es gebe "auf der ganzen Welt" nicht einen, mit dem man sprechen könne, es gebe keinen mehr mit Herz.

Und doch: Wir leben in einer Zeit, in der das Egozentrische bei vielen so stark ausgeprägt ist, dass andere - besonders Einsame, die nicht sonderlich attraktiv erscheinen, zum Beispiel alte Menschen - nicht wahrgenommen, also übersehen werden. Dass zu viele Herzen kalt bleiben angesichts der stummen Schreie: "Bleib einen Augenblick stehen. Sprich mit mir." Ich habe die Hoffnung, dass sich das Egozentrische auf Dauer nicht durchsetzen wird, weil kein Mensch auf Dauer so leben kann.

Irgendwann fordert die Einsamkeit zu der Frage heraus, worauf es im Leben letztlich ankommt. Fragen aber, die tief bohren, bringen manchmal tiefe Antworten hervor, zum Beispiel diese, dass man sich, ohne es zu verstehen, trotz allem im Leben geborgen fühlt.

Vielleicht aber ist dieser Artikel, den Sie, verehrte Leser, nicht übersehen haben, ein Grund, mehr als bisher offen zu sein für die "stummen Schreie" in Ihrer Nähe. Ob das anstrengend ist? Es gibt eine Tatsache: Wohlwollen und Liebe sind unteilbare Gefühle. Sie tun nicht nur dem anderen gut, sondern immer auch uns selbst.

Dr. Uwe Böschemeyer, Psychotherapeut, Autor zahlreicher Bücher, Leiter des Hamburger Instituts für Logotherapie und Rektor der Europäischen Akademie für Wertorientierte Persönlichkeitsbildung Salzburg