Die Mutter der zwölfjährigen Lisa fand Trost beim Verein Verwaiste Eltern und Geschwister Hamburg, wird jetzt selbst Trauerbegleiterin.

Am Anfang war da dieser Schmerz. Dieser nicht zu beschreibende körperliche Schmerz des Verlustes. Diese Endgültigkeit, niemals wieder mein Kind in den Arm nehmen zu können. Und dann die Tatsache, wie meine Tochter gestorben ist. Sie war nicht krank, sie ist nicht durch einen Unfall ums Leben gekommen. Nein, sie wurde ermordet. Und ich hatte sie nicht beschützt. Der Gedanke "Was musste sie durchmachen?" hat mich fast verrückt gemacht. Die Tage im Oktober 2004 werde ich nie vergessen:

Am Sonnabend, dem 9. Oktober, habe ich mich mit Lisa auf den Weg in die Türkei gemacht. Wir wollten dort in den Herbstferien noch eine Woche Sonne tanken und unseren "Frauenurlaub" genießen. Lisa war zwölf. Das Hotel gefiel uns beiden sehr gut. Und gleich am ersten Tag haben wir nette Kontakte geknüpft.

Am Sonntagmittag wollte Lisa sich im Hotelshop eine Luftmatratze kaufen. Nachdem sie eine halbe Stunde später noch nicht zurück war, habe ich sie in der Hotelanlage gesucht. Sie war aber weit und breit nicht zu sehen. Erst später erfuhr ich, dass der Hotelshop geschlossen hatte und sie vom Hotel zur Hauptstraße gegangen war. In einem kleinen Laden hat sie dann ihre Luftmatratze gefunden.

Dann verlor sich ihre Spur. Lisa war nicht aufzufinden. Die Polizei und das Militär haben mit Hundertschaften nach ihr gesucht. Es wurden Straßensperren errichtet, jedes Auto kontrolliert. Es begann die schlimmste Zeit meines Lebens. Ich war völlig handlungsunfähig. Ich kannte meine Tochter, und ich wusste, dass sie absolut zuverlässig war. Sie wäre niemals ohne mich weiter vom Hotel weggegangen. Diese nicht zu beschreibende Furcht hat mir die Kehle zugeschnürt. Die Gedanken und Bilder in meinem Kopf waren schrecklich. Ich dachte immer nur: Wo ist meine Tochter? Was passiert gerade mit ihr? Wenn sich einige der Hotelgäste nicht so rührend um mich bemüht hätten, wäre ich durchgedreht.

Am Montag gegen Mittag wurde ihre Leiche unterhalb der Burg von Alanya, circa 20 Kilometer von unserem Hotel entfernt, gefunden. Davon habe ich aber erst abends erfahren. Ich wurde in ein Krankenhaus nach Alanya gebracht. Keiner sagte mir, warum. Und ich habe nicht gefragt. Vielleicht aus Angst vor der Antwort. Ich hoffte ja noch, dass sie sich vielleicht ein Bein gebrochen hatte, sich aber nicht verständigen konnte. Man gab mir eine Beruhigungsspritze und führte mich in den Keller. Dort lag meine Lisa auf einer Bahre. Ich sah noch die kleine Wunde an ihrem Kopf, dann bin ich zusammengebrochen. Die Ermittlungen der türkischen Polizei liefen auf Hochtouren. Ein Boutique-Besitzer wurde verhaftet, der wegen sexueller Übergriffe auf Kinder schon auffällig geworden war. Der Mörder wurde in der Türkei nach einem Prozess, der insgesamt 13 Monate gedauert hat, zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt. Im Juli 2008 hat er sich im Gefängnis das Leben genommen.

Ich kann mich nicht mehr so gut an die Trauerfeier erinnern. Das war der einzige Tag, an dem ich Beruhigungstabletten genommen hatte. Aber ein Satz des Pfarrers hat sich mir eingeprägt: "Gott hat ihr Leben in seiner Kürze als vollendet angesehen."

Inzwischen habe ich für mich einen recht guten Weg gefunden, das Geschehene zu verarbeiten. Einen großen Anteil daran hatten für mich die Gruppentreffen bei dem Verein Verwaiste Eltern und Geschwister Hamburg, wo es eine Gruppe "Gewaltverbrechen" gibt. Dort treffen sich viermal im Jahr Eltern, deren Kind durch ein Gewaltverbrechen gestorben ist. Diese Gruppe ist bundesweit die einzige Gruppe in der Art. Sie wird von zwei Trauerbegleiterinnen mit sehr viel Hingabe geleitet.

Dort spricht man mit Menschen, die gleiche oder ähnliche Erfahrungen gemacht haben, die einem vielleicht helfen können bei den Fragen "Wie gehe ich mit meinem Schmerz und meiner Trauer um?" oder "Was tut ihr, wenn es mal wieder ganz schlimm ist?". Oder: "Könnt ihr mir einen guten Rechtsanwalt/eine Anwältin empfehlen?" "Wie kann ich mich auf den Gerichtsprozess vorbereiten?" "Wie habt ihr die erste Begegnung mit dem Täter im Gerichtssaal verkraftet?" "Hattet ihr vor Gericht die Möglichkeit, von eurem Kind zu berichten und vielleicht ein Foto zu zeigen? Ich habe Angst, dass es ausschließlich um den Täter geht und mein Kind 'zu kurz' kommt."

Inzwischen habe ich eine Ausbildung zur Trauerbegleiterin beim Institut für Trauerarbeit begonnen. Mein Wunsch ist es, anderen betroffenen Eltern etwas von dem zu geben, was ich erhalten habe.