Nach dem Suizid ihres Sohnes fand Brigitte G. endlich Trost und Halt beim Verein Agus

Es liegt mir unendlich viel daran, das Thema Suizid zu enttabuisieren. Zu viele Menschen müssen leiden unter einer Sprach- und Hilflosigkeit von ihren nächsten Mitmenschen. Nach dem Suizid tut sich für die Hinterbliebenen ein Abgrund auf. Ich stand am Abgrund und mit mir meine Familie. Unser mittlerer Sohn nahm sich mit 24 Jahren das Leben. Neun Jahre haben wir um unseren Jungen gekämpft. Auch er hat gekämpft wie ein Löwe. Doch die Krankheit, eine besonders tückische Form von Schizophrenie mit Depressionen und Todestrieb, war stärker. Aber mit kaum jemandem konnten wir über unsere Verzweiflung, unsere Trauer, ja, auch aufkommende Schuldgefühle sprechen. Durch Zufall kam ich zu Agus, einem Verein für Angehörige um Suizid. Ich erfuhr Trost und so viel Hilfe, dass ich Sie bitten möchte, auf den Verein hinzuweisen, er leistet Großartiges für Menschen in tiefer seelischer Not, ringt aber ums Überleben. Jede noch so kleine Spende hilft Agus und somit vielen Verzweifelten. Und bitte schreiben Sie: Unsere Gesellschaft muss akzeptieren, dass auch Suizid zum Leben gehört und wir nicht alle retten können. Brigitte G.

Es antwortet der Psychotherapeut Dr. Uwe Böschemeyer: Der Verlust eines Menschen, der sich das Leben genommen hat, ist für die Angehörigen ein abgrundtiefer Einschnitt, dem sie zunächst kaum oder gar nicht gewachsen sind. Sie reagieren darauf in aller Regel völlig hilflos, geschockt und verzweifelt. Ihre bisherige Einstellung zum Leben ist überholt. Ihr eigenes Dasein erscheint ihnen zutiefst fragwürdig. Ihr Leben scheint abgebrochen.

Was geht in ihnen vor? Nach dem Schock kurz nach dem Suizid setzen zermürbende Fragen ein, zum Beispiel diese: Warum hat er das getan? Warum hat er uns das angetan? Hätten wir nicht merken müssen, dass sich eine Katastrophe anbahnt? Was haben wir unterlassen? Was wäre gewesen, wenn wir mit ihm mehr gesprochen hätten? Ist das unsere Schuld, dass er nicht mehr lebt? Was sagen die Freunde, Bekannten, Nachbarn, die Kollegen zu dem, was bei uns "passiert" ist?

Gibt es denn wirklich Anzeichen für einen bevorstehenden Suizid? Manchmal ja, zum Beispiel dann, wenn die Lebenssituation eines Menschen erschreckend eingeengt ist und er sich so verhält, wie man es von ihm nicht kennt. Aber - wie viele sind in einer ähnlichen Lage - und überwinden ihre Not! Was ist sicher? Dass es gilt, mit dem Menschen ein Gespräch zu beginnen, der sagt, er wolle sich das Leben nehmen. Und wenn in der Realität von zehn Menschen, die davon sprechen, nur einer seine Ankündigung wahr machen sollte, so gilt es, alle zehn Ankündigungen ernst zu nehmen.

Trägt jemand Schuld am Tod des Angehörigen? Die Verantwortung für den Suizid trägt eindeutig der, der sich dafür entscheidet. Wir aber, die wir davon hören, haben keinerlei Grund, darüber zu richten. Weil wir keinerlei Einsicht in die Seele des Toten haben und also nicht wissen, was ihn zu seiner Entscheidung gebracht hat.

Zutiefst bedauerlich ist, dass die Angehörigen des Toten mit ihren Fragen, Gedanken und Gefühlen oft allein bleiben. Es scheint, als lebten sie in einem vergifteten Raum, dem sich kaum jemand zu nähern wagt. Dabei brauchen gerade sie das Gespräch und das Mitgefühl von anderen!

In der Tat ist der Suizid Teil des Lebens und keineswegs nur unserer Zeit. Doch weil sich gerade heute so viele Menschen das Leben nehmen (jährlich 58 000 EU-Bürger), haben wir, die wir das Leben lieben, die Aufgabe, mit aller Entschiedenheit auf zwei Fragen Antworten zu finden. Die erste bezieht sich auf den Grund für so viele Selbstmorde, die zweite auf mögliche Lösungen. Die Antworten: Wir leben in einer Zeit, in der die Liebe zum Leben immer mehr der Angst vor dem Leben weicht. Doch Schicksal ist das nicht. Deshalb brauchen wir dringend eine Neubesinnung auf die Frage, wer der Mensch ist und was er vor allem zum Leben braucht. Und wer ist er? Er ist und bleibt "ein König", so der bedeutende Philosoph Blaise Pascal, selbst dann noch, "wenn sein Purpurmantel verschlissen ist".