Mit dem Loslassen tun sich viele Trauernde schwer. Denn der Tod beendet nicht unsere Liebe, schreibt der Psychotherapeut Roland Kachler.
Eine 70 Jahre alte alleinstehende Frau verliert ihren erwachsenen Sohn. Er kam bei einem unverschuldeten Autounfall ums Leben. Was kann es Schlimmeres geben als diesen Verlust? Warum musste ihr Sohn vor ihr sterben? Nicht nur, dass ihr geliebter Junge viel zu früh gehen musste, nun ist die Frau ganz allein. Ihr Mann hatte sie verlassen, als der Junge fünf Jahre alt war. Sie zog ihn allein auf, deshalb war die Bindung zwischen Mutter und Sohn besonders innig. Der Schmerz der Frau ist unendlich groß. Aber von allen Seiten wurde ihr geraten, ihren Sohn endlich "loszulassen". Sie kommt zu mir zum Gespräch und bittet um einen Rat: "Ich will doch meinen Sohn nicht ein zweites Mal verlieren." Was meint sie damit? Der reale Verlust ist schlimm genug, nun soll sie nicht mehr an ihren Sohn denken, ihn nicht mehr lieben dürfen?
Mit diesem Loslassen tun sich viele Trauernde sehr schwer. Der Tod beendet das Leben des geliebten Menschen, aber er beendet nicht unsere Liebe. Wie aber soll die Liebe weitergehen angesichts dessen, dass der geliebte Mensch nicht mehr da ist?
Tatsächlich: Die Liebe muss neue Wege des Liebens suchen. Sie muss eine andere, eine innere Beziehung zum verstorbenen geliebten Menschen finden.
Wie kann das gehen? Die Wege hierzu habe ich in dem Trauerbuch "Meine Trauer wird dich finden" beschrieben. Nach dem Unfalltod meines Sohnes habe ich selbst nach diesen Wegen gesucht. Die Suche war schwer, obwohl ich es doch als Psychologe und Psychotherapeut hätte wissen müssen. Doch wenn man selbst tief von einem Verlust getroffen ist, hilft alles Wissen nicht wirklich weiter. Überdies hatte ich selbst anderen Trauernden zum Loslassen geraten.
Nun aber spürte ich, dass ich das nicht wollte. Ich wusste, dass ich meinen Sohn in meinem Inneren bewahren will. Außerdem habe ich entdeckt, dass mir mein Sohn sehr nahe ist, ganz besonders an seiner Unfallstelle.
Unsere Seele sucht also einen guten, sicheren Ort für den Verstorbenen. An diesem besonderen Ort finden Trauernde den geliebten Menschen, dort reden sie mit ihm. Ein Vater, der seinen 30 Jahre alten Sohn verlor, setzt sich immer wieder an das Grab und spricht mit seinem Sohn. Eine junge verwitwete Frau fährt immer wieder an das Meer. Dort ist sie ihrem Mann nahe, dort spürt sie ihn. Dann sucht sie eine Muschel und bringt sie als Gruß an sein Grab.
Für viele Trauernde ist also das Grab oder ein Ort in der Natur solch ein Platz, an dem sie ihren geliebten Menschen immer wieder aufsuchen. Andere Trauernde finden in ihrem Herzen oder in ihrer Erinnerung einen guten Ort, an dem sie ihren Verstorbenen in Liebe bewahren. Ich frage eine Witwe, wo sie ihren verstorbenen Mann im Körper spürt. Sie legt ihre Hand auf die linke Brust und sagt: "Ich trage meinen Mann in meinem Herzen. Und da nehme ich ihn überall mit hin."
Viele Trauernde wollen auch einen religiösen oder transzendenten Ort, an dem ihr geliebter Mensch für immer gut aufgehoben ist. Gibt es auf der anderen Seite des Lebens einen guten, ewig bewahrenden Ort, an dem die Verstorbenen sein können? Natürlich können wir das nicht wissen. Viele Trauernde aber glauben und hoffen, dass es solch einen auf Dauer sicheren Ort gibt.
Ein fünfjähriger Junge malt gern Regenbogen. Zusammen mit seinen Eltern schaut er die "Sendung mit der Maus" über Regenbogen. Am Ende der Sendung steht als Schlussbild ein Regenbogen über dem Meer. Einige Wochen danach ertrinkt der Junge in einem See. Für die Eltern ist sofort klar, dass der Regenbogen die Verbindungsbrücke zu ihrem Jungen ist.
Immer wenn ein Regenbogen auftaucht, spüren sie die Nähe ihres kleinen Sohnes, als würde er auf dem Regenbogen vom Himmel her zu ihnen kommen. Sie spüren, dass ihr Sohn im Himmel sicher geborgen ist.
Natürlich bleiben Hinterbliebene zunächst traurig, auch wenn sie diesen sicheren Ort für ihren Verstorbenen gefunden haben. Und doch ist das Wissen, dass ihr geliebter Mensch an diesem Ort sicher geborgen ist, sehr tröstlich. Dort geht er ihnen nicht verloren, dort finden sie ihn immer wieder, dorthin können sie ihn auch gehen lassen. Nun kann auch die schlimmste Trauer aufhören, weil der geliebte Mensch nicht ganz verloren geht und weil die Liebe weitergehen darf. Der amerikanische Schriftsteller Thornton Wilder (1897-1975) sagt: "Da ist ein Land der Lebenden und ein Land der Toten, und die Brücke zwischen ihnen ist die Liebe - das einzig Bleibende, der einzige Sinn."
Unser Autor Roland Kachler ist Psychologe und Psychotherapeut. Er schrieb Bücher zum Thema Trauer wie "Für immer in meiner Liebe. Das Erinnerungsbuch für Trauernde" (Ostfildern 2010) oder "In meiner Trauer wohnt die Liebe. Gedanken, die den Tod überwinden" (Stuttgart 2010); Internet: www.Kachler-Roland.de