Katharina Brandt ist hochsensibel. Lange litt sie an ihrer starken Empfindsamkeit, nun lernt sie, damit umzugehen

Sie ist gerade auf den Bürgersteig vor ihrer Eppendorfer Wohnung getreten, da geht es schon los. Die vielen Autos, die Menschen auf dem Gehweg greifen sie förmlich an. Katharina Brandt will wegschauen, sich beruhigen, da rauscht der Bus haarscharf an ihr vorbei. Und dann kommt alles auf einmal: Schweißausbrüche, Magenschmerzen, Übelkeit.

Situationen wie diese erlebt Frau Brandt (Name geändert) oft. Die Physiotherapeutin ist hochsensibel. Jeden Eindruck nimmt sie doppelt stark wahr. Sie hört mehr, fühlt stärker, ist überfordert, sobald sie sich in Menschenmengen bewegen muss. Sie reagiert auf alles intensiver, erfasst Stimmungen sofort, spürt die Gedanken anderer. Permanent ist Katharina Brandt überreizt.

15 bis 20 Prozent der Bevölkerung gelten als hochsensibel. Lärm, Konflikte und der Alltag mit seinen Sinneseindrücken führen bei ihnen zu einer Überreizung des Nervensystems. Weil ihre Wahrnehmungsfilter nicht gut ausgeprägt sind, stürmen zu viele Impulse auf sie ein, die noch gereizter machen. "Hochsensible Personen haben weit offene 'Informationskanäle' sowohl für Sinnesinformationen aus der Außen- wie aus der Innenwelt", sagt Mediziner Dr. Bernd Seitz. "Das alles ist gekoppelt mit reduzierter Filterfunktion auf allen Ebenen der Nervenleitungssysteme."

Die Ursache ist wenig erforscht. "Eine Definition des Begriffs gibt es bislang nicht", sagt Jutta Böttcher. "Aber Betroffene gibt es viele." Ihnen zu helfen, ein Netzwerk zu schaffen, das hochsensible Menschen begleitet, hat sich Jutta Böttcher zur Aufgabe gemacht. Mit der Gründung von Aurum Cordis hat sie in Buxtehude ein Zentrum für Hochsensibilität geschaffen. "Wir haben ein Netzwerk von Therapeuten und Medizinern und einen Ort, an dem Betroffene einander begegnen können", sagt die 54 Jahre alte Geschäftsführerin. "Viele von ihnen merken erst hier, dass sie zwar anders, aber dennoch richtig sind." Denn genau das ist es, was viele Betroffene quält. Sie wissen nicht, was mit ihnen los ist, fühlen sich als Außenseiter. Sie werden als überempfindlich abgetan, sind gestresst und werden schließlich krank. Auch Katharina Brandt hat sich 40 Jahre lang nicht verstanden. "Ich war ein ängstliches, trauriges Kind", sagt sie. "Schulfreunde waren mir zu laut und oberflächlich." Statt mit anderen Kindern spielt Katharina mit imaginären Freunden. Ständig ist sie krank. Guckt jemand komisch, überlegt das Mädchen, was es falsch gemacht hat. Die Mutter sagt: "Katharina, funktioniere einfach! Damit du unbehelligt durchs Leben kommst." UndKatharina funktioniert. Sie macht ihr Abitur, beginnt ein Studium der Physiotherapie. In den Vorlesungen sucht sie sich einen Platz am Ausgang, Gruppenarbeiten meidet sie, genauso wie Studentenpartys. Mehrfach fällt die Studentin in Ohnmacht. Der Dauerstress wirft sie aus der Bahn. Kopf- und Rückenschmerzen sind die Folge. "Bei vielen Betroffenen entsteht eine vermehrte Infektanfälligkeit", sagt Dr. Seitz. Der Dauerstress führe zu Konzentrationsschwächen und Depression.

Katharina Brandt distanziert sich von sich selbst. "Ich habe gedacht: du bist nicht richtig", sagt sie. Auch, weil sie anderen mit ihrer Art Angst macht. "Ich fühle oft Stimmungen, erahne Dinge, die sich ereignen." Dass sie mit ihren Eigenschaften nicht allein ist, erfährt sie erst über den Kontakt zu Aurum Cordis. Im Gespräch lernt sie, dass die eigene Empfindsamkeit auch ein Vorteil sein kann. Denn so wie Hochsensibilität intensives Leiden verursachen kann, so macht sie auch das Erleben von Freude und Wertschätzung intensiver. Je früher sie erkannt wird, desto besser kann damit umgegangen werden. So wie bei Jannik. Der Siebenjährige ist anders als andere Kinder. Mit zwei konnte er sprechen, mit fünf wurde er eingeschult, da konnte er bereits lesen und schreiben. "Er ist sehr feinfühlig", sagt die Mutter. Ein absoluter Perfektionist.

Wenn Dinge, die er vorhat, nicht funktionieren, rastet er aus. "Er nervt", beschreibt die Mutter die Erfahrungen, die ihr die Lehrer widerspiegeln. Jannik wurde in die Schublade "hyperaktiv" gesteckt. Doch Gespräche bei Aurum Cordis ergaben: Jannik ist hochbegabt und hochsensibel. Mit einer Psychologin haben die Eltern einen Weg erarbeitet, um Jannik dabei zu helfen, seine Wahrnehmungen zu koordinieren.

Auch Katharina Brandt hat gelernt, mit ihrer Hochsensibilität umzugehen. Sie respektiert ihre Grenzen, packt den Tag nicht so voll. Sie geht nicht in die Innenstadt und macht ihre Einkäufe nicht zu den Stoßzeiten. So oft wie möglich geht sie in die Natur. Um allein zu sein. Und der Stille zu lauschen.