Mutmacher Susan Henseler war ein Crash-Kid, als sie ihren Sohn bekam. Ihr zweites Kind war ein extremes Frühchen - und für die Mutter ein Glücksfall.

Hamburg. Manchmal holt Susan Henseler den weißen Ordner aus dem Regal und fängt an zu blättern. Ordentlich abgeheftete Papiere, eine Klarsichthülle mit Mutterpass. Dann findet sie, was sie sucht: eine winzige Windel, etwa so groß wie ein Smartphone. "Und die mussten wir auch noch umkrempeln", sagt sie und zieht ein abgegriffenes Foto raus. Der Winzling im Brutkasten zwischen den Schläuchen und Kabeln ist kaum zu sehen. "Das ist Lara Joy. Sie ist in der 25. Woche zur Welt gekommen. Viel zu früh", sagt Susan Henseler. Sie guckt auf die Frühchenwindel und dann zu ihrer Tochter auf dem Sofa. Lara Joy ist jetzt 16 Jahre alt.

Sie lachen oft zusammen, die beiden. Tauschen Schuhe. Manchmal streiten sie auch. So wie Mutter und Tochter das normalerweise so machen. Aber dies ist keine normale Geschichte. Susan Henseler war 18 Jahre alt, als sie ihre Tochter gebar. Zwei Wochen vorher hatte sie erfahren, dass sie schwanger ist. "Ich bin zum Arzt gegangen, weil ich Bauchschmerzen hatte", erinnert die Harburgerin sich. Als der dann feststellte, dass sie im fünften Monat schwanger war, habe sie nur gedacht: Das kann nicht sein. "Mein Sohn war gerade ein Jahr alt. Ich hatte mich von seinem Vater getrennt, wollte meinen Schulabschluss machen." Trotzdem hat sie sich für das Kind entschieden. "Ich habe gar nicht überlegt."

Vielleicht, weil ihr Leben noch nie so war wie das von anderen. Mit 14 Jahren ist sie weg von zu Hause, von der überforderten Mutter. Freiwillig ist sie in ein Jugendheim gezogen. Später landete sie am Hauptbahnhof, wurde ein Crash-Kid. Geklaut haben sie, Autos geknackt und sind durch die Gegend gefahren, erzählt sie offen. Mit 16 Jahren war sie schwanger, mit 17 Jahren zum ersten Mal Mutter. Sie nannte ihren Sohn Justin - und spürte, dass es so nicht weiterging. "Ich wusste, ich muss mein Leben ändern", sagt sie. Zehn Monate lebte sie in einem Mutter-Kind-Heim. Zog dann in eine kleine Wohnung, ganz für sich allein.

Dort war sie auch, als sie am 18. Mai 1996 plötzlich Blutungen bekam. Sie rief den Rettungswagen. Doch kein Krankenhaus wollte die junge Frau in der 25. Schwangerschaftswoche aufnehmen. Bis sie nach Altona kamen. "Ich war gerade auf dem Zimmer, da ging es auch schon los." Per Kaiserschnitt holten sie ihre Tochter auf die Welt. 28 Zentimeter groß, 480 Gramm schwer. Eine Handvoll Mensch. "Die Ärzte haben mir gleich gesagt, dass sie nicht wissen, ob sie überlebt", sagt Susan Henseler. Drei Monate hatte sie keinen Namen für ihr Kind, dann nannte sie sie Lara Joy. Joy für Freude.

"Alle haben mir geraten, Lara Joy wegzugeben. Aber sie gehörte doch zu mir", sagt sie. In Jeans und T-Shirt sitzt sie in ihrem Wohnzimmer, eine rote Blume im Haar. Von den Urlaubsfotos an den Wänden lächeln Lara Joy und Justin, in einer Ecke steht ein Katzenkratzbaum. "Was wäre gewesen, wenn ich gestorben wäre?", fragt ihre Tochter in die Stille des Augenblicks. Ihre Mutter schüttelt leicht den Kopf. "Du bist nicht gestorben." Jeden Tag ist sie ins Krankenhaus gefahren, hat Kleinkind und Job jongliert. Neun Monate, so lange wie eine Schwangerschaft. Als sie Lara Joy mit nach Hause nehmen durfte, hatte diese sechs Herzoperationen hinter sich. Arztbesuche, Physio-, Musik- und Ergotherapie, immer wieder Krankenhaus. Immer wieder Hoffnung und Enttäuschungen. Susan Henseler kämpfte für ihr Kind. Doch erst mit vier Jahren war klar, dass Lara sehen, hören und laufen würde wie andere Kinder auch. "Ich hatte damals einen Partner, der die Kinder mit mir erzog. Ohne ihn hätte ich es nicht geschafft", sagt Susan Henseler. Sie macht ihren Hauptschulabschluss nach. Absolviert eine Ausbildung zur Kauffrau für Bürokommunikation bei Airbus. "Ich wollte auf eigenen Beinen stehen", sagt sie.

Die kleine Familie zog aufs Land, in ein Haus mit Garten. Susan Henseler wollte ein Idyll - einen Gegenentwurf zu ihrer Kindheit. Mit sieben Jahren kam Lara Joy in die Schule. "Sie war immer noch ein bisschen zu klein, aber sie war über den Berg."

Jetzt ist sie ein hübscher Teenager und komplett gesund. In ihrem Zimmer hängen Fotos von New York, Paris, London. "Meine Traumziele", sagt die 16-Jährige. Im letzten Halbjahr hatte sie das beste Zeugnis in ihrer Klasse. Ihr Lieblingsfach ist Deutsch. "Ich will Abitur machen und studieren", sagt Lara Joy. Liebevoll schaut sie auf die zierliche Frau mit den Blumen-Tattoos auf den Armen. Sie habe ihrer Mutter viel zu verdanken, sagt sie mit ihrer warmen Stimme. "Unsere Beziehung ist etwas ganz Besonderes." Susan Henseler lächelt. So stolz ist sie auf ihre Tochter. Und manchmal wundert sie sich auch, "weil sie so ordentlich ist und ein bisschen konservativ". Seit vergangenem Jahr leben die beiden allein in ihrer Wohnung in Eißendorf. Justin ist ausgezogen, wohnt mit seiner Verlobten zusammen, die beiden bekommen bald ein Kind. "Ich könnte noch mal Mutter werden, aber jetzt werde ich Oma", sagt sie und grinst. Sie ist immer noch jung, gerade 34 Jahre alt. Seit einigen Jahren arbeitet sie als Pferdepflegerin auf einem Gestüt. "Ein harter Job, aber genau richtig für mich", sagt sie. "Wenn Lara Joy nicht so gewesen wäre, wie sie ist, wäre das Leben nicht so gut für mich verlaufen. Durch meine Kinder habe ich kämpfen gelernt. Und Mut bekommen. Sie sind ein echter Glücksfall. Und meine Rettung."