Nach einem Unfall lag die junge Frau im Koma. Intensiv unterstützt von ihren Eltern kämpfte sie sich zurück ins Leben.

Es gibt Sekunden, die über ein ganzes Leben entscheiden können. Wo plötzlich nichts mehr ist, wie es vorher war, und wo es manchmal Jahre braucht, um genau das zu begreifen und zu akzeptieren. Bei Familie Lindemann war und ist das so - seit dem Autounfall ihrer Tochter Jessica vor mehr als 21 Jahren. Die damals 20-Jährige war mit einer Kollegin unterwegs zur Berufsschule, als diese in einer langen Kurve die Kontrolle über ihren Wagen verlor. Beide überlebten, Jessica allerdings mit schweren Gehirnquetschungen.

Als das Ehepaar Lindemann ihre bewusstlose Tochter auf der Intensivstation der Uniklinik Lübeck sahen, erfuhren sie zunächst nur die Diagnose: schweres Schädel-Hirn-Trauma mit Apallischem Syndrom. Das Sprachzentrum sei zerstört, zudem sei sie gelähmt. Keiner der Ärzte konnte ihnen sagen, ob ihre hübsche, freiheitsliebende und fröhliche Tochter je wieder aufwachen und, wenn, was für ein Mensch sie dann sein würde. "Es war, als würde der Fußboden unter den Füßen weggezogen werden. Wir wussten ja überhaupt nichts über das Krankheitsbild", sagt Bodo Lindemann.

Heute ist der 67-Jährige ein Experte auf dem Gebiet. Er hat Vorträge darüber gehalten, Vereine und Selbsthilfegruppen gegründet. Und vor einem Jahr das Pflegezentrum Viapallia Wedel konzipiert und mit aufgebaut, das sich auf Patienten mit Apallischem Syndrom spezialisiert hat. Es ist eine neurologische Therapie-Einrichtung, wie er sie sich für seine Tochter in all den Jahren immer gewünscht hatte, in denen er und seine Frau um die richtige Pflege für sie gekämpft haben.

Denn nach drei Monaten auf der Intensivstation sollte die noch immer im Koma liegende Jessica in ein Altenpflegeheim abgeschoben werden. "Unsere junge Tochter zwischen all den alten Menschen, das konnten wir nicht übers Herz bringen", sagt Lindemann.

Es folgte eine eineinhalbjährige Odyssee durch Einrichtungen - vom Unfallkrankenhaus Boberg bis zu einer Reha-Klinik für Jugendliche in Geesthacht. "Aber nirgendwo passte sie rein, es gab in Deutschland wenige Einrichtungen für Menschen mit Jessicas Trauma. Diese boten weder Ansprache noch Therapie, noch Hoffnung.

Für die Lindemanns war das keine Alternative, auch wenn die Prognose inzwischen lautete, dass ihre Tochter die nächsten zwei Jahre vermutlich nicht überleben würde. "Wir konnten sie nicht aufgeben. Besonders meine Frau spürte, dass Jessica leben wollte."

Schließlich die Entscheidung, Jessica heimzuholen. Sie bauten ihr Haus in Lemsahl-Mellingstedt um. Monika Lindemann gab dafür ihren Job auf, Bodo Lindemann arbeitete weiter als Top-IT-Manager. "Ich musste ja Geld verdienen. Die Extra-Therapien kosteten Unsummen. Doch wir haben nach jedem Strohhalm gegriffen, der sich uns anbot." Am Wochenende wusch und kochte er, kümmerte sich um Verwaltungsaufgaben und suchte weiter nach Einrichtungen, die helfen konnten. Er fand eine in der Schweiz, die Jessica ambulant betreuen wollte und viel Erfahrung mit hirnverletzten Patienten hatte. Über acht Jahre zog Monika Lindemann mit Jessica immer wieder für einige Monate ins Alpenland. Eine teure, aber erfolgreiche Entscheidung - die Therapien schlugen an.

"Ich habe Betteln und Demut in diesen Jahren gelernt", sagt Lindemann leise. Demut davor, dass ein noch so kleiner Fortschritt die ganze Welt bedeuten kann. "Als Jessica nach einem Jahr aufwachte und Mama und Papa mit ganz rostiger Stimme sagte, war das einfach überwältigend."

Doch bis sie ein halbes Augenlid aufmachen konnte, dauerte es ein halbes Jahr, bis sie das Bett verlassen konnte, vier Jahre. Inzwischen kann Jessica wieder sprechen, wenn auch undeutlich. Sie erinnert sich an alles bis zu ihrem 19. Lebensjahr, an ihre Freunde, Lehrer und Lieblingsfächer. Sie spricht Französisch, Englisch und Latein. Sie kann rechnen, alleine essen und etwas lesen. Aber sie kann sich nicht erinnern, was sie am Morgen zum Frühstück gegessen hat - das Kurzzeitgedächtnis ist gestört. Und sie kommt nicht alleine aus dem Bett, kann sich nicht versorgen, nicht alleine bleiben. Die Eltern, besonders die Mutter, sind rund um die Uhr gefordert. Seine Frau und er seien ein Arbeitsteam geworden, sagt Lindemann. Mit unterschiedlichen Rollen: Er ging in die Offensive und bringt nun als Geschäftsführer des Viapallia Wedel seine ganze Erfahrung ein. Seine Frau Monika, 68, geht in der Pflege der 41 Jahre alten Tochter auf. "Ich bin meiner Frau dafür unendlich dankbar, denn Jessica braucht ständige Ansprache. Sie weiß um ihren Zustand. Und es macht sie traurig. Nachts hat sie Albträume vom Unfall, tagsüber kommen Ängste hoch, was mit ihr passiert, wenn wir nicht mehr da sind." Bodo Lindemann schießen die Tränen in die Augen - es ist auch seine größte Sorge.

Doch zum Glück gibt es immer wieder Fortschritte. Vor zwei Monaten ist Jessica aus dem Rollstuhl aufgestanden und das erste Mal Treppen gestiegen. "In dem Moment wusste ich, dass sich der ganze Aufwand gelohnt hat und man nie aufgeben sollte", sagt Lindemann. Das ist es auch, was er den Angehörigen der "Viapallia-Patienten" immer wieder sagt - und vorlebt.