Die Kindheit der erfolgreichen Jurastudentin war geprägt von einem brutalen Vater. Eine langjährige Therapie half.

Das Erste Staatsexamen hat sie mit Auszeichnung bestanden. Sie will Anwältin werden. Nein, sie wird Anwältin werden. Weil sie Kindern und Jugendlichen, die erlebt haben, was sie selbst erleben musste, helfen will.

Tina, 24, Grübchen, schlank, lange braune Haare, dunkle Augen, ist nach Professorenmeinung eine der besten Jurastudentinnen, die die Fachschaft an der Uni Hamburg in ihren Reihen hat. Die Frage, warum das so ist, stellt sie sich selber oft. Ist es wegen ihrer schrecklichen Kindheit? Oder trotz? Dass Tina überhaupt eine Uni würde besuchen können, hielten ihre Lehrer lange für ausgeschlossen. Sie selbst ebenfalls. Jahrelang quälten Geister aus der Vergangenheit das Mädchen. Tina litt an einem Posttraumatischen Belastungssyndrom (PTBS). Ihr eiserner Wille, eine aufmerksame Mutter, jahrelange Therapie und ein Arzt, der ihre Kopfwelten behutsam neu ordnete, halfen Tina aus dem Dilemma, das ihr Leben schon früh zu zerstören drohte.

In Niendorf war Tina aufgewachsen. Nicht in Armut, aber auch nicht im Reichtum. Eine Durchschnitts-Kindheit - und dennoch alles andere als normal. Tinas Vater war Spieler und Alkoholiker. Wenn er pleite und betrunken nach Hause kam, ließ er seine Wut an der Familie aus. Er schlug seine Frau, Tinas Mutter, blutig, holte Tina aus dem Bett, um sie zu verprügeln. Immer wieder. Auch Tinas kleine Schwester schlug und demütigte er. Nachdem der Vater Tina und ihre kleine Schwester mit einer Pistole bedroht hatte, nahm die Mutter ihre Töchter und floh. Doch der Terror dauerte an - der Ehemann und Vater wurde zum Stalker.

Jahrelang zog die kleine Familie von Wohnung zu Wohnung - immer auf der Flucht vor ihm. Viermal wechselte Tina die Grundschule. An Kontinuität oder gar Freundschaften war nicht zu denken. Trotzdem schaffte Tina den Sprung auf ein Gymnasium. Doch dort kam sie nicht mehr mit. "Es ging rapide bergab", erzählt die bildhübsche Studentin. "Ich hatte verbale Ausraster, war oft gar nicht wirklich da. Aber wie konnte ich auch, wenn ich am frühen Morgen erleben musste, dass mein Vater uns wieder aufgelauert hatte." Die Mutter, der Tina heute noch dankbar ist, erkannte, dass ihre Tochter Hilfe braucht. In der Trauma-Ambulanz des UKE lernte Tina den Kinder-Trauma-Experten und damaligen Oberarzt Andreas Krüger kennen. Der hörte sich ihre Geschichte an, versuchte, Vertrauen aufzubauen. Was nicht einfach war: "Männer empfand ich nach den Erlebnissen mit meinem Vater als gigantische Bedrohung."

"Ich musste Tina klarmachen, dass nicht sie verrückt ist, sondern das, was sie erlebt hatte", sagt Andreas Krüger, der heute eine Praxis für traumatisierte Kinder und Jugendliche in Harvestehude leitet und mit namhaften Unterstützern den Verein "Ankerland e.V., Hilfe für traumatisierte Kinder" gegründet hat. Der 44-Jährige: "Die Gewalterfahrung, die Hilflosigkeit, hatten Tina schwer traumatisiert. Ihr Kopf spielte permanent Notprogramme ab. Ein Geruch, ein Geräusch, eine Szene auf der Straße - all das löste heftige Reaktionen aus, die sie körperlich und seelisch erstarren ließen. Der Kopf signalisierte: Du bist in einer Sackgasse. Es gibt keinen Ausweg."

Gemeinsam erarbeiten Therapeut und Patientin einen Notfallplan: Tina begann, ein Tagebuch zu schreiben, lernte, sich sichere innere Orte zu erschaffen, schlechte Gedanken, schlimme Gefühle von sich zu separieren. "Wir haben die Gedanken als kleine innere Kinder direkt angesprochen, ihnen ein Gesicht gegeben, sie befreit", erklärt Krüger. Tina spielte all diese Szenarien, die Krüger mit ihr einübte, im Geiste durch. Tausende Male. Bis die Gedanken in Fleisch und Blut übergegangen waren. Sie hörten Musik. "Um Getrenntes zusammenzuführen", wie Krüger sagt. Mehrere Jahre war Tina in der Behandlung des Therapeuten. Dankbar aber ist sie nicht nur ihm, sondern auch ihrer Mutter, die ihre Hilfsbedürftigkeit erkannte. Die einen Platz fand, an demTina therapiert werden konnte. Diese Plätze sind rar gesät: Noch immer gibt es in Deutschland nur sehr wenige Behandlungszentren für seelische Wunden. Dabei ist unter Experten unumstritten, dass die frühe Behandlung von Traumatisierten nicht nur den Patienten hilft, sondern auch hilft, unabschätzbare Folgekosten zu vermeiden.

Tina kann inzwischen sogar ihrem Vater wieder in die Augen sehen. Er hat aufgegeben, seine ehemalige Familie zu terrorisieren. "Mein Trauma ist jetzt eine Perle in der Kette meiner Erfahrungen", sagt Tina. "Ich habe die inneren Kinder befreit."