Julia D. beklagt eine zunehmend unverbindliche Kontaktaufnahme von Mann und Frau. Und die 25-Jährige fragt: Bin ich altmodisch, wenn ich nach einem Partner suche, für den auch Werte wie Geborgenheit, Vertrauen, Verlässlichkeit und Liebe noch gültig sind?

Seit Wochen beschäftigt mich die Frage, ob es heute zwischen Mann und Frau nur noch um schnelle Lustbefriedigung geht. Mit einer Freundin bin ich auf einer Karnevalsveranstaltung gewesen. Ich habe mit einem Freund über meinen Eindruck gesprochen, wie sich Mann und Frau anscheinend auf manchen Partys verhalten - wie sie sich ohne vorherige Bekanntschaft und ohne viele Worte, aber dafür mit umso mehr Promille im Blut, knutschend in den Ecken vergnügten. Wenn nicht noch am selbigen Abend, so doch spätestens am nächsten Morgen, verabschiedete man sich, wohl lediglich körperlich bekannt, wieder voneinander.

Kurz darauf sah ich eine Dokumentation im Fernsehen, in der man sich küssende Paare im Karneval befragte, ob sie den Namen des Partners kannten. Alle (!) Befragten kannten ihn nicht, und es schien auch nicht wichtig zu sein. Spaß wollte man haben. Und das möglichst unverbindlich.

"Ich verstehe das nicht . . .", sagte ich dem Freund. "Irgendwie ist diese unverbindliche zwischenmenschliche Kontaktaufnahme von heute nichts für mich."

"Unverbindlichkeit ist wohl heute eher 'in'", kommentierte mein Freund. "Vielleicht geht es nicht mehr primär um das Kennenlernen, sondern um schnellen unverbindlichen Sex."

"Dann bin ich hoffnungslos altmodisch", entgegnete ich. "Für mich kommt nach wie vor erst das Kennenlernen vor der körperlichen Zweisamkeit. Aber wo und vor allem wie kann ich heute noch einen Mann wirklich kennenlernen? So Schritt für Schritt? Woher kommt dieses Streben nach Unverbindlichkeit? Mangelt es an Interesse für den anderen? Ist es nicht mehr spannend, sich auf den anderen einzulassen und sich dafür Zeit zu nehmen? Sind Werte wie Geborgenheit, Verlässlichkeit, Vertrauen und Liebe nicht mehr 'in'?"

"Doch schon", bekam ich zögerlich zur Antwort, "zumindest sehnen sich viele Menschen - Männer wie Frauen - nach wie vor danach. Das glaube ich. Vielleicht kennt man einfach nicht mehr den gemeinsamen Weg dorthin. Es gibt die klaren Regeln in der Rollenverteilung zwischen Mann und Frau nicht mehr. Das verunsichert auf beiden Seiten. Und bevor man etwas Falsches tut, lebt es sich vielleicht besser unverbindlich. Ihr Frauen seid heutzutage emanzipiert und stark. Ihr braucht keinen Mann mehr. Genau das macht manchem Mann Angst." -"Okay", erwiderte ich. "Die Frau ist bekanntlich zwischenzeitlich emanzipiert. Und der Mann? Viele sprechen doch von der Emanzipation des Mannes. Wie sieht die aus? Als emanzipierte Frau wünsche ich mir jedenfalls den emanzipierten Mann, der Werbung nicht nur für eine Pause in der Halbzeit hält. Der sich wieder traut, den ersten Schritt zu wagen und einer Frau wieder die Tür aufhält. Der zwischenmenschliche Nähe geduldig sucht und zu dem steht, was er sagt, meint und tut. Und der sich vor allem traut, einer eigenständigen, starken Frau eine Schulter zu gewähren und sie auch schwach sein lässt. Der zudem gelernt hat, dass Frauen keine Angst machen, sondern mehr Frau sein wollen. Wenn es so einen Mann gäbe, das wäre toll! Selbst wenn ich damit als völlig altmodisch erscheine, bleibe ich dabei: Ich mag diese unverbindliche Art zwischen Mann und Frau nicht. Für mich ist Liebe viel mehr als Sex. Stehe ich mit meiner Einstellung wirklich allein da?" Julia D. (25)

Es antwortet Dipl.-Psych. Prof. Dr. Elisabeth Müller-Luckmann :

Sicher gehören Sie nicht zu den Leuten, die einfach nach mehr vermeintlicher Lebensfreude "grapschen". Vielmehr reflektieren Sie selbstständig und wehren sich dagegen, was Ihr gutes Recht ist, im allgemeinen seichten Strom mitzuschwimmen. Sie befinden sich in einem dynamischen Prozess, der lange dauern kann und auch nicht unproblematisch ist.

Aber ich möchte Sie in dem eingeschlagenen Weg bestärken. Was sich bei Ihnen entwickelt, ist eine Tendenz zur dauerhaften und verlässlichen Wertorientierung und Findung. Das ist etwas höchst Individuelles, und es ist von sekundärer Bedeutung, ob man als altmodisch gelten kann oder nicht.

In unserer Zeit ist es üblich geworden, sich mit allzu schnell erledigten Patentlösungen abzufinden. Für Sie ist das nicht der richtige Weg, und Sie haben damit subjektiv so recht wie alle Menschen, die auf eine Lebensform Ihrer Geschmacksrichtung eingestellt sind. Ihr Freund äußert verbreitete Ängste, die im Grunde natürlich sehr banal sind. Es kann sich aber auch um eine vordergründige Ausrede als Erklärungsversuch handeln. Sich auf jemanden oder eine Sache von Bedeutung einzulassen, heißt, die Fähigkeit zu zeigen, sich von dem eigenen begrenzten Ich jedenfalls zeitweilig zu trennen und das nicht nur als pure Lustgewinnquelle zu betrachten.

Lassen Sie sich möglichst nicht beirren und bleiben Sie so nachdenklich, wie Sie jetzt sind. Sogenannte schnelle Patentlösungen haben nur selten jemandem geholfen. Sie haben das Recht auf individuelle Bedürfnisse und sollten die Nerven behalten, wenn es darum geht, auf die richtige Konstellation für Sie zu warten. Haben Sie Mut zu sich selbst und Ihren Bedürfnissen, denn die sind sehr gut nachvollziehbar, und ich bin überzeugt, dass es viele Menschen gibt, die ähnlich denken wie Sie. Nur: Man muss ihnen begegnen. Das dürfte in unserer kommunikativ gestimmten Gesellschaft möglich sein. Ich wünsche Ihnen viel Glück dazu.