Anne S., Jahrgang 39, wird immer wieder von ihren bedrückenden Kindheitserinnerungen eingeholt. Auf die Frage: Wie kann ich weiterleben, ohne zu verzweifeln, gibt der Psychotherapeut eine hilfreiche, einfühlsame Antwort.

Ich bin das letzte von vier Kindern, das ungewollte Kind. Mein Vater ist 1945 verstorben, da war ich sechs Jahre alt, wohl sein Liebling. Meine Mutter, überlastet, bei meiner Geburt schon 42 Jahre alt, hat mich von Anfang an abgelehnt. Sie hat mich fühlen lassen, dass ich nicht erwünscht war. Du bist eine Last und mir ein Klotz am Bein. Ohne dich könnten wir besser leben. Immer Vorwürfe, Vorhaltungen, nichts, aber auch gar nichts konnte ich ihr recht machen. Wie siehst du wieder aus, deine Haare, an dir sieht alles sch......aus. Eine Zitrone in deinem Mund, und du siehst aus wie ein Schweinekopf. Als Kind war ich Bettnässer, wenn andere Kinder mich zum Spielen abholten: A. hat Stubenarrest, warum? Geht in den Garten, dann könnt ihr es sehen. Meine Mutter hatte die Betten sichtbar rausgehängt. Der Spott war mir gewiss. Mein Bruder, drei Jahre älter als ich, war ihr "Prinz". Er sollte Vaterstelle an mir üben, was er auch tat; ich wurde regelmäßig geschlagen, eingesperrt, bekam Essensentzug, wurde gedemütigt. Meine Mutter hat es gewusst und nichts gesagt. Aus Angst und Einschüchterung, etwas falsch zu machen, habe ich alles getan, was sie von mir wollten. Mein Bruder sagte, wenn ich dabei sein wollte: Du bist wie Wasser, du bist flüssig, du bist überflüssig. Ich könnte noch Seiten füllen mit meinen Erlebnissen über meine "so schöne Kindheit". Das wirklich Traurige an meinem Leben ist, dass ich heute, mit gut Siebzig, in therapeutischer Behandlung bin. Anne S.

Es antwortet Dr. Uwe Böschemeyer, Psychotherapeut. Leiter des Instituts für Logotherapie und Rektor der Europäischen Akademie für Wertorientierte Persönlichkeitsbildung Salzburg:

Dieser Brief ist wieder einmal ein Beispiel dafür, dass es Mütter gibt, die nichts Mütterliches haben. Doch geht es hier nicht nur um den Mangel an Mütterlichem, sondern vor allem um Mangel an Menschlichkeit.

Wenn einem Kind immer wieder gesagt wird - ich zitiere: "Du bist mir ein Klotz am Bein" - "Ohne dich könnten wir besser leben" - "Du siehst aus wie ein Schweinekopf" - oder "Du bist überflüssig" -, dann lasse ich nur meiner Erschütterung Raum.

Jedenfalls sind die in dieser Zeitung gerade bekannt gewordenen Leidensgeschichten von Menschen, die ungewollt ins Leben kamen und ungeliebt hineinwuchsen, wieder einmal ein Anlass, sich darüber zu empören, und erstens danach zu fragen, was sich gesellschaftlich effektiv tun lässt, um diese sich wiederholenden Elendsgeschichten zu reduzieren, und zweitens, ob Menschen, die eine solche Kindheit wie Anne S. gehabt haben, noch Hoffnung auf Überwindung ihrer Verletzungen und auf ein "normales" Leben haben können.

Meine Antwort zur zweiten Frage lautet eindeutig Ja - unter der Voraussetzung, dass ein solcher Mensch sich therapeutisch helfen lässt, dass er der Resignation zu widerstehen beginnt und sich im Lauf der Zeit nicht gegen die Hoffnung sperrt.

Kann denn aber ein Mensch, der über viele Jahre so gelitten hat, überhaupt noch hoffen?

Zunächst einmal: Hoffnung ist das stärkste Motiv im Menschen, ist eine Gefühlskraft, die zur inneren Ausstattung jedes Menschen gehört. Sie kann vergessen, verschüttet oder verdrängt werden - auflösen wird sie sich nie. Und das hat Folgen: Wer hofft, hat ein Gefühl für sich veränderndes Leben. Wer hofft, erwartet Neues: neue Erfahrungen, neuen Sinn, neues Leben. Wer hofft, begrenzt die Macht der alten, niederziehenden Erfahrungen. Wer nicht zu hoffen wagt, gibt seinem eigenen Leben keine Chance.

Und was kann man therapeutisch tun? Ich kann nur von meinen nicht wenigen Erfahrungen mit Menschen dieses Schicksals sprechen. Erstens: Weil die Seele in der Tiefe verletzt wurde, ist es wichtig, sie dort aufzusuchen, wo die Verletzungen sich festgesetzt haben: im Unbewussten. Wertimaginationen - bewusste "Wanderungen" ins Unbewusste - helfen, sich den verletzten Stellen, die sich in Symbolen zeigen, so behutsam wie möglich zu nähern.

Zweitens: Während der "Wanderung" durch das Unbewusste können die Lebenskräfte wieder frei werden, die durch die bedrückende Kindheit abgespalten und verkapselt wurden, sodass sie gar nicht wirksam werden konnten, z. B. der Mut, die Freiheit, die Liebe und vor allem die Hoffnung.

Drittens: Gewiss bleiben seelische Narben. Doch je lebensvoller durch die Therapie die Gegenwart wird, desto mehr wird das, was war, vom heute gelingenden Leben überspült.

Also gibt es Grund zu Hoffnung? Ja!

Und: Wer nicht mehr zu hoffen wagt, gleicht dem, der seine Kräfte (und das kann die Wut sein!) noch spürt, sie aber nicht mehr gebraucht - , der den Ruf des Retters noch hört, ihm aber nicht mehr antwortet.

"Du bist viel mehr, als Du denkst" heißt der Vortrag von Dr. Uwe Böschemeyer im Rahmen unserer Abendreihe "Schule des Lebens" am 21. April um 19 Uhr im Gemeindehaus von St. Michaelis, Englische Planke 1. Karten 10 Euro, Tel. 04131/40 38 44 (ab Osterdienstag 9 Uhr, an der Abendkasse ab 18 Uhr.