Für die Rentnerin Katharina B. war die Kindheit ein Albtraum. Ihre Erlebnisse verfolgen sie noch heute.

"Du bist für alle das Letzte", meinte kürzlich mein 17-jähriger Enkel zu mir. Seine flapsige Ausdrucksweise traf mich mitten ins Herz. Ich weiß, er wollte mich nicht beleidigen - er gab nur wieder, welche Stellung ich in der Familie habe. Ich bin verzweifelt, weiß natürlich, welche Fehler ich in meinem Leben bisher gemacht habe, doch ich möchte auch einmal respektiert werden.

Meine Eltern mochten mich nie. Ich begriff schon als ganz kleines Mädchen, dass mich meine Mutter hasste. Ich kann mich daran erinnern, dass ich für jede Kleinigkeit Prügel bezogen habe. Meine Schwester war dagegen von klein auf der Liebling meiner Mutter, sie war ihr Wunschkind. Mich sah sie dagegen nur als Kostenfaktor, hoffentlich bin ich dich bald los, sagte sie zu mir.

Trotzdem hing ich an meiner Familie, mit meinen zwei Brüdern verstand ich mich gut. Dann vergriff sich mein Vater an mir und drohte mir, ich würde nicht mehr zur Familie gehören, wenn ich es erzähle. Ich hatte panische Angst, verstoßen zu werden, und schwieg. Mein Glück war nur, dass er bald das Interesse an mir verlor.

Ich bin jetzt 61 Jahre alt und besonders in letzter Zeit fallen mir immer wieder Begebenheiten ein, die mir noch immer die Fassung rauben. Meine Eltern zogen mich als Dienstmädchen heran, ich habe mich nie gewehrt.

Ich war eine begeisterte Schülerin, aber ich durfte nicht studieren. Mit 19 Jahren habe ich geheiratet - eine Flucht aus dem Elternhaus. Ich bekam zwei Töchter. Viel zu spät erkannte ich, dass mein Mann ein Trinker und Frauenheld war, oft verschwand er tagelang. Nach anderthalb Jahren reichte ich die Scheidung ein. Ich jobbte, finanzierte mein Studium, fand danach eine Arbeit und zog meine Töchter groß.

Ich wollte immer, dass es meine Töchter besser haben, finanzierte ihre Ausbildung, aber sie haben mich nie gemocht und in mir nur diejenige gesehen, die das Geld heranschafft. Ihre Verachtung und die meiner Schwester sowie meiner noch lebenden Mutter machen mir schwer zu schaffen, ich leide sehr darunter.

Ich bin dankbar, dass ich das alles einmal aufschreiben konnte, es hilft mir sehr, denn das oft zitierte Herz ist dadurch nicht ganz so schwer." Katharina B.

Es antwortet Diplom-Psychologin Prof. Dr. Elisabeth Müller-Luckmann :

Dieser Brief offenbart in geradezu ergreifender Weise ein sehr weit verbreitetes menschliches Defizit: einfach alles dem Schicksal zu überlassen, nicht über sich selbst und die eigenen Motive zu reflektieren. Manche Eltern machen sich zu wenig klar, was mit der Aufgabe, Kinder großzuziehen, auf sie zukommt. Dabei wäre es notwendig und folgerichtig, wird aber bei gebildeten wie auch weniger chancenreichen Menschen leichtfertig vernachlässigt.

Weil dem so ist, entstehen immer wieder Wunden, die in einer sehr sensiblen Lebensphase in jungen Jahren unheilbare Schmerzen hinterlassen. Denn ein nie gefestigtes Urvertrauen ist auch später oftmals nicht mehr reparabel. Wer nicht gelernt hat, daran zu glauben, dass er ein selbstverständliches Recht hat zu existieren, lernt das manchmal niemals mehr. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass mit der Zeit alle Wunden heilen, wenn es nur lange genug her ist und darüber Gras gewachsen ist.

Frau B. sieht ein, dass sie selbst Fehler gemacht hat, doch die alten Wunden brennen unablässig. Man kann ihr nur wünschen, dass sie selbst die Kraft gewinnt, trotz allem ihren Platz in der Welt zu behaupten.

Eltern, die so handeln wie Frau B. es beschreibt, sind pure Egoisten, die sich selbst als Nabel der Welt verstehen. Kinder sind ein anvertrautes Gut und kein persönlicher Besitz. Sie haben ganz unterschiedliche Gaben, und wir sollten sie so annehmen, wie sie sind. Wer dies nicht begreift, sollte sich die Elternrolle nicht zumuten. Niemand ist heute gezwungen, Kinder zu haben, wenn er nicht durch eigene Gläubigkeit gesteuert wird.

Für alles braucht man eine Art von Eignungsvoraussetzung. Aber wie man sich zu Kindern verhält, wird in der eigenen Lebensplanung nicht ausdrücklich programmiert. Wenn dann das schlechte Gewissen ab und zu aufbricht, beruhigt man es mit einer Überfülle an überflüssigen Gegenständen, ohne zu bedenken, dass nur Verständnis, Liebe und Zuneigung ein Kind erst zu einem verlässlichen guten Lebensgefühl verhelfen. Wir täten gut daran, nicht zu vergessen, dass materielle Zuwendungen Versäumnisse nicht leichter und erträglicher machen.