Ellen S. ist ratlos und fühlt sich elend. Die 67-Jährige kann nicht verstehen, warum sie für ihre Tochter und Enkelin einfach nicht mehr vorhanden ist und jeder Versuch der Annäherung scheitert.

Seit Monaten bewegt mich ein großes Problem, mit dem ich allein nicht fertig werde. Ich bin seit acht Jahren Witwe. Eine Freundschaft mit einem sehr lange bekannten Witwer gibt mir ein wenig Halt. Während ich mit meinem Sohn, der Schwiegertochter und Enkelin einen familiären Kontakt habe, ist das mit meiner Tochter ganz anders und belastet mich schwer. Der Kontakt, auch zu meinen beiden Enkelkindern, 20 und 24 Jahre alt, ist gänzlich abgebrochen. Immer wieder hat es in der Vergangenheit Kommunikationsschwierigkeiten mit meiner Tochter gegeben. Ich weiß, dass sie nach dem Tod ihres Mannes vor neun Jahren selbst Probleme hat, und würde ihr so gern zur Seite stehen. Sie lässt es nicht zu.

Es geht in unseren Zerwürfnissen meistens um Kleinigkeiten: ein vereinbarter Besuch wird von ihr einfach nicht wahrgenommen, ein andermal hätten sie meine Geburtstagsglückwünsche aus dem Ausland nicht erreicht und so weiter.

Meistens habe ich nach einer gewissen Zeit einen schriftlichen Versuch unternommen, wieder ins Gespräch zu kommen. Auch mein Sohn hat versucht zu vermitteln, vergeblich. Ich bin so traurig, dass sie so hart sein kann und jeglichen Kontakt zu ihrer Mutter ablehnt. Nach meinen vielen Versuchen fehlt mir nun die Kraft, immer wieder "um gut Wetter" zu bitten. Ich fühle mich so elend, dass ich für meine Tochter und meine Enkelin einfach nicht mehr vorhanden bin. Gibt es einen Rat und eventuell Trost für mich? Ellen S. (67)

Es antwortet Dr. Uwe Böschemeyer, Psychotherapeut, Leiter des Hamburger Instituts für Logotherapie und Rektor der Europäischen Akademie für Wertorientierte Persönlichkeitsbildung Salzburg:

Krisen, auch die zwischen Eltern und Kindern, können wichtig sein, weil sie möglicherweise die Weiterentwicklung fördern, die eigene und auch die der Beziehung. Krisen sind allerdings beides: Gefährdung und Chance. Sie bedrohen den Menschen und fordern ihn heraus zur Veränderung seines Lebens. Daher können sie auch eine Gunst sein, und daher kann das veränderte Leben besser sein als das vergangene.

Nicht bestimmte Enttäuschungen, Verletzungen, Verluste, nicht eine bestimmte Not ist primär für den Fortgang der Lebensgeschichte entscheidend, sondern die Art und Weise, wie wir uns darauf einstellen und damit umgehen. Sie schreiben, es gehe in den Zerwürfnissen mit Ihrer Tochter meistens um Kleinigkeiten. Das glaube ich gern, weil meiner Erfahrung nach viele Beziehungen so verlaufen. Es sieht dann so aus, als seien die Kleinigkeiten Ursache der Zerwürfnisse. In Wahrheit aber sind sie nur Symptome einer tiefer liegenden Problematik. Wie oft nämlich lachen die Streitenden später, nachdem sie sich wieder versöhnt haben, über das, was sie zuvor "erschüttert" hat. Jedenfalls sind die von Ihnen mit Recht so genannten Kleinigkeiten wohl der Auslöser, aber gewiss nicht der Grund für Ihren Konflikt.

Ahnen Sie, was "hinter" dem Konflikt steckt? Wäre ich Sie, würde ich mir einige Fragen stellen: Kann es sein, dass sich Ihre Tochter irgendwann durch Sie verletzt fühlte und darüber nie gesprochen hat? Spielt Eifersucht eine Rolle? Eifersucht wegen Ihrer guten Beziehung zu Ihrem Sohn? Sie sprechen von großen Problemen, die Ihre Tochter (verständlicherweise) nach dem Tod ihres Mannes gehabt habe. Ob der Konflikt in dieser für sie schwierigen Zeit entstanden sein könnte?

Was ich Ihnen sagen möchte: Bitten (!) Sie Ihre Tochter, Ihnen zu sagen, was sich "hinter" den Streitereien verbirgt. Denn - diesen nicht nur weisen, sondern auch hilfreichen Satz hat der große Menschenkenner Nietzsche einmal gesagt: "Nur wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie." (Frankl-Übersetzung)

Lassen Sie Ihrer Tochter Zeit, auf Ihre Frage zu antworten.

Und: Manchmal brauchen auch die großen Kinder Abstand zu den Eltern. Die Gründe mögen sehr unterschiedlicher Art sein. Jedenfalls liegen sie nicht unbedingt in der Beziehung zu anderen. Wir leben in einer Zeit, in der die Worte Persönlichkeitsentwicklung, Selbst- und Sinnfindung ganz groß geschrieben werden. Deshalb kommt es vor, dass für eine bestimmte, oft begrenzte Zeit die Angehörigen in den Hintergrund treten. Verständlicherweise sind solche Zeiten für sie alles andere als bekömmlich. Doch wenn sie dagegen Front machen, reagieren die mit sich selbst Beschäftigten empfindlich. Zum Verhalten Ihrer Enkelin vermute ich, dass sie sich mit ihrer Mutter solidarisiert.

Das Wichtigste: Bringen Sie in Erfahrung, was in Wahrheit zu den Zerwürfnissen geführt hat. Und: Wenn's geht, verhärten Sie sich nicht, denn nichts verhindert Versöhnung so sehr wie ein Herz, das die Sehnsucht nach Frieden verbirgt und vor allem Anklagen ausstrahlt.