Noch zwei Jahre, dann wird er neunzig. Ein alter Mann, die Frau vor langer Zeit gestorben. Den Heiligen Abend wird er wie stets allein verbringen, das Zimmer im Halbdunkel einiger Kerzen, ein Tannenstrauß auf dem Tisch, daneben dieses Bild. Eine Frau zeigt es, die in ihrem Mantel liebevoll ein Kind schützt. An der Seite geschrieben: "Licht - Leben - Liebe". Und wie immer am Weihnachtsabend wird sich der alte Mann von diesem Bild zurückführen lassen in eine schreckliche Vergangenheit:

Stalingrad, Dezember 1942 - nein, man soll gar nicht erst versuchen, die Apokalypse zu beschreiben. Eine Vorstellung hat nur, wer von der über das Land jagenden Furie Tod verschont blieb, im Feuerhagel der Geschosse, vom gnadenlosen Frost, dem qualvollen Hunger und der Verzweiflung, die so endlos war wie die im Schnee liegende Steppe rings um die Stadt.

Der alte Mann denkt oft, warum er zu den wenigen gehörte, die der Tod nicht wollte. Natürlich findet er keine Antwort. Er weiß nur, dass er manchmal, während der Schlacht und in den Jahren der Gefangenschaft, alle beneidet hatte, die das Grauen nicht mehr erleben mussten. Doch stets hat ihn dieses Bild aus der Hoffnungslosigkeit geführt. Der Arzt und Pastor Dr. Kurt Reuber hat es für seine Kameraden gezeichnet, zu Weihnachten 1942 in einem Bunker, später noch einmal in einem Gefangenenlager bei Jelabuga, wo er starb. Seine Zeichnung aber, die "Madonna von Stalingrad", wurde als Dokument der Versöhnung berühmt. Das Original ist mit einem der letzten Flugzeuge aus dem Stalingrader Kessel nach Deutschland gebracht worden und in der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche ausgestellt, Kopien gibt es in aller Welt, selbst in einem Museum in Stalingrad (heute Wolgograd). Einmal ist der alte Mann gefragt worden, ob er es nicht leid sei, dieses Alleinsein zu Heiligabend. Eine Einladung hat er abgelehnt. Er hat nicht gesagt, dass er sich nicht allein fühle, die Madonna sei ja bei ihm. Wer würde das wohl noch verstehen?