“Versöhnung geschieht durch Verzeihen“, führte Dr. Uwe Böschemeyer in einem mitreißenden Vortrag kürzlich aus. Aufgrund der großen Nachfrage hier einige wesentliche Auszüge.

Es gehört zu den größten Rätseln menschlichen Lebens, dass "zwei Seelen, ach, in unserer Brust wohnen" (Goethe). Die eine will Frieden, die andere Zerstörung, die eine Liebe, die andere Hass. Liebe und Hass aber sind unteilbare Gefühle. Das bedeutet: Wenn ich einen Menschen hasse, trifft mein Hass nicht nur den anderen, sondern auch mich selbst. Wenn ich dagegen einen anderen liebe, fühlt nicht nur er meine Liebe, sondern auch ich selbst. Dass wir die Möglichkeit haben, nicht nur für uns, sondern auch gegen uns selbst, andere und das Leben zu sein, durchzieht alle Gesellschaftskreise, betrifft die Jungen wie die Alten. Sie ist ein menschliches Phänomen. Ist das unser Schicksal, dass wir oft das Gute wollen, doch das andere tun? Ja und Nein. Aber auch Nein!

Im Folgenden soll weder von "üblichem" Streit noch von erlittenen Gewalttaten die Rede sein, die Versöhnung außerordentlich erschweren, sondern von überwindbarem Unversöhntsein, deren beste Voraussetzung das Versöhntsein mit sich selbst ist, das heißt:

Versöhnung mit sich selbst

1. Sich mit seiner Lebensgeschichte aussöhnen: Mit den Eltern, die uns ins Leben begleitet haben, mit den Geschwistern, mit unseren eigenen schwierigen Erbanlagen, mit den Schicksalsschlägen, die wir nicht zu verantworten haben, mit unseren eigenen, falschen Entscheidungen, die uns auf Jahre hin gar blockierten.

2. Ja sagen zur Geschichte des eigenen Lebens, zu dem, was zu mir gehört, ich aber nicht wahrhaben will (die Wut, die Unwahrhaftigkeit oder die Eitelkeit). Denn wer sich nicht dem eigenen Schatten stellt, projiziert ihn unbewusst auf andere. Den Schatten annehmen heißt nicht, ihn auszuleben, sondern ihn sich einzugestehen. Weil die Seele nichts weniger ertragen kann als die Lüge.

3. Sich aussöhnen mit seiner Schuld. Wer das Glück hat, an Gott glauben zu können - nicht an den strafenden, sondern an den gütigen, wird ihm hinhalten und ihm überlassen, was ihm so schwer auf der Seele liegt.

4. Sich aussöhnen mit dem eigenen Körper, weil ich begreife, dass mein Körper einmalig und unverwechselbar ist und ich deshalb für ihn verantwortlich bin.

Versöhnung mit anderen

1. Sich bewusst machen, was Unversöhntsein bedeutet:

Wer mit einem anderen Menschen auf Dauer unversöhnt ist, trägt ihm nach, was zum Streit geführt hat: Groll, Wut, Hass. Doch diese Gefühlskräfte bleiben auch in ihm! Die Folgen: Weil er nicht verzeiht, verspannen sich Körper, Seele und Geist. Das Immunsystem wird geschwächt. Die Seele kränkt den Körper. Die Freude verliert ihr Wesen. Das Sinngefühl vermindert sich. - Was hat der Nachtragende davon, wenn er nicht zur Versöhnung bereit ist? Er fühlt sich dem anderen moralisch überlegen, fühlt sich als Richter über ihn. Er verurteilt ihn - sich selbst spricht er frei. Er macht den anderen klein - sich selbst macht er groß. Die Bewusstmachung dieses Zusammenhangs könnte ein erster Schritt zur Versöhnung sein.

2. Was wäre, wenn ich dem anderen verzeihen würde? Ich wäre nicht mehr auf das Unrecht des anderen fixiert. Ich wäre nicht mehr vom Streit vergiftet. Ich wäre erleichtert. Ich wäre mit mir und ihm in Frieden. Ich wäre versöhnt. Ich wäre frei.

3. Um zu echter Versöhnung zu gelangen, ist es wichtig, sich das, was zum Konflikt führte, noch einmal anzusehen: den Schmerz, den Ärger, die Wut, das Gefühl der Demütigung, das, was ich nicht begreifen kann usw.

4. Jeder hat seinen eigenen Blickwinkel: Stellen Sie sich vor, dass neun Menschen um einen Berg herum stehen. Jeder wird sagen: Ich sehe den Berg - und irgendwie hat jeder recht damit. Doch jeder sieht nur einen Teil des Berges. Es gibt auch eine Menschenkunde, Enneagramm genannt, die besagt, es gebe neun unterschiedliche Typen (Charaktere). Sie zeigt eindrucksvoll, dass jeder Typus auf seine Weise denkt, empfindet, fühlt und handelt. Aufgrund dieser unterschiedlichen Sichtweisen versteht es sich von selbst, dass es immer wieder zu Meinungsverschiedenheiten und damit zum Streit kommen kann, dass auch die Bereitschaft zum Frieden je und je verschieden ist.

5. Verzeihen gehört zum Menschen: Es geschieht durch Verzeihen. Verzeihen und Versöhnen sind nicht einfach gesellschaftlich bedingte Phänomene, sondern menschliche Eigenschaften und Werte, die zur menschlichen Ausstattung gehören. Deshalb können sie durch wertimaginative "Wanderungen" in die innere Welt neu belebt werden.

6. Versöhnung nach der Trennung: Nicht darauf kommt es primär an, was wir an Schwerem erleben, sondern darauf, wie wir das Schwere annehmen. Kräfte verliert der, der den tatsächlichen Verlust des Partners und seine eigenen Anteile am Scheitern leugnet oder verdrängt. Kein Mensch darf einen anderen besitzen. Wer den anderen festhält, verliert ihn. Weil Hass Leben zerstört, ist Versöhnung mit dem früheren Partner eine lebenswichtige Aufgabe.

7. Wenn wir weniger als bisher unsere eigenen Probleme anderen anlasteten, wären wir freier und versöhnter, weil jede gelebte Verantwortung Freiheit und Versöhnung schafft. Ist das nicht Utopie? Wenn wir aufhörten, darauf zu hoffen, würde die Hoffnung Trauerkleider tragen.