Missbrauch - unsere Tochter beschuldigte meinen Mann

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Charlotte Castens musste erleben, wie ein entsetzlicher Vorwurf fast ihre ganze Familie zerstört hätte. Sie hat aufgeschrieben, wie sie die dunkelste Phase ihres Lebens durchgestanden hat . . .

Mit Entsetzen muss ich oft über sexuellen Missbrauch an unschuldigen Kindern und Jugendlichen lesen. Es ist für mich unvorstellbar, welches Martyrium diese Kinder durchleben. Sie müssen unbedingt an Leib und Seele geschützt werden, und die Täter müssen ihrer gerechten Strafe zugeführt werden.

Dass es aber auch die andere Seite gibt - öfter, als man denkt -, dass Kinder ihren Vater oder die Eltern zu Unrecht des sexuellen Missbrauchs beschuldigen, darüber wird nur selten geschrieben. Wir haben diese Hölle durchlebt . . . Unsere Tochter hat meinen Mann beschuldigt, sie jahrelang vergewaltigt zu haben.

Ich habe ein Buch über unsere Geschichte geschrieben, als Hilfe für Betroffene, aber auch, um Ärzte und Psychologen wachzurütteln, genau hinzuschauen und hinzuhören und sich zu fragen: Erzählt mir meine Patientin wirklich die Wahrheit? Meinem Mann und mir, aber auch unserer Tochter wäre sehr viel Leid erspart geblieben, wenn das geschehen wäre.

Unsere Tochter hat Depressionen, ist traumatisiert und leidet unter Panikattacken. Seit Jahren wird sie von wechselnden Psychologen betreut. Drei von ihnen waren hundertprozentig davon überzeugt, dass mein Mann der Täter war. Nichts wurde hinterfragt, alles wurde so hingenommen, wir waren einfach machtlos. Da meine Tochter volljährig war, hatten wir keine Handhabe.

Und dann - endlich! Während eines Klinikaufenthaltes hat der leitende Oberarzt, Dr. G., bald erkannt, dass meine Tochter nicht die Wahrheit sagte. Er hat sich für unsere Familie sehr eingesetzt, und es ging aufwärts.

Aus Angst vor ihrem wahren Peiniger - dem sie sich nicht widersetzen konnte, hat meine Tochter die entsetzliche Tat auf meinen Mann projiziert, Vielleicht ist ihre Wut ja eines Tages so groß, dass sie den Mut hat, ihren Peiniger anzuzeigen . . . "

In ihrem bewegenden Buch ("Nur dein Herz kennt die Antwort", Bella-Vista-Verlag, ISBN 3-937617-19-1, 14,80 Euro ) zeichnet Charlotte Castens den langen Weg nach von ihrer Heirat 1968, ihrer glücklichen Ehe, dem beruflichen Erfolg und der Adoption der kleinen Marie zehn Jahre später, weil ihre Ehe kinderlos blieb. Sie schildert die prächtige Entwicklung des Kindes und das gemeinsame Glück mit ihm. Beschreibt die allmähliche beunruhigende Veränderung der heranwachsenden Marie bis zu jenem verhängnisvollen Tag, als die mittlerweile 24-Jährige einen Selbstmordversuch macht . . .

"Dieser furchtbare Tag, der 19. September 2002. Marie lag im Krankenhaus, ihre Wohnung hatten sie aufgebrochen, hatten Marie herausgeholt mit Polizei und Rettungswagen. Aber kaum hatte ich mich ein wenig gefangen, hatte mich diese zweite Nachricht wie eine Keule getroffen. Mein Mann, mein liebenswerter, zurückhaltender, humorvoller Mann, der stets ein fürsorglicher und liebevoller Vater war: Mein Mann soll meine Tochter missbraucht haben? Jahrelang? NIEMALS!"

Völlig aufgelöst berichtet Charlotte Castens ihrem Mann von dem ungeheuerlichen Verdacht. . . . "Als er hörte, was ihm vorgeworfen wurde, brach er beinahe zusammen. Er versicherte mir, diese Anschuldigung sei völlig abwegig. Ich glaubte ihm sofort. Unsere Beziehung beruht auf großem Vertrauen. Nie, noch nie hatte ich auch nur einen Grund, an seiner Aufrichtigkeit zu zweifeln. Er hatte einen Schock, war nicht mehr ansprechbar, und ich saß hilflos daneben. Was ich in dieser Situation meiner Tochter gegenüber empfand? Wut, Entsetzen, Enttäuschung, Fassungslosigkeit, Ratlosigkeit - und große Traurigkeit."

Es folgten Tage, Wochen, voller Verzweiflung, Ungewissheit. "Ich erleide einen Zusammenbruch", schreibt Charlotte Castens weiter. "Marie befand sich im Krankenhaus, nimmt den Vorwurf gegen ihren Vater nicht zurück, will ihre Eltern zunächst nicht sehen. Was ist aus unserer einst so fröhlichen Familie geworden?"

Dann, Monate später, zermürbende Monate, Maries Geständnis: "Papa sei es nicht gewesen. Sie würde sich unendlich schämen, Und sie könne nicht verstehen, dass ihre Eltern nicht wütend auf sie wären, sondern nur traurig.

Da war es endlich, das Geständnis, auf das wir so sehr gewartet hatten! Aber befreit fühlten wir uns in diesem Augenblick nicht . . .

Kannst du dir vorstellen, was man aus Angst alles macht?, fragte mich Marie. Ja, das konnte ich.

Tief im Innern fühlte ich ihre Erleichterung, dass wir nun Bescheid wussten und sie ihr Lügengebäude nicht weiter aufrecht erhalten musste . . .

Marie befand sich nun in der Klinik für traumatisierte Patienten. Bevor sie dorthin fuhr, versicherte sie meinem Mann und mir: "Was ich euch angetan habe, muss ich auch mit verarbeiten."

Nach ihrer Entlassung halfen ihr die Eltern, eine kleine Wohnung zu erwerben. "Alles lief ganz entspannt. Marie begann endlich, auf eigenen Füßen zu stehen . . .

Wäre es uns nicht möglich gewesen, uns immer wieder auszusprechen, sowohl bei unseren Freunden, Verwandten, die zu jeder Zeit für uns da waren, als auch bei Dr. G. hätten wir mit Sicherheit den Boden unter den Füßen verloren . . .

Auch die Tatsache, dass unsere Ehe so stabil ist und ich niemals an meinem Mann zweifelte, hat es erst ermöglicht, diese dunkle Phase in unserem Leben zu überstehen. Ich bin eine Kämpfernatur und sah nur eine Möglichkeit: Mich schützend vor meinen Mann zu stellen.

Und er verlor nie die Zuversicht, dass Marie sich besinnen und es nicht zu einer Anklage kommen würde. Vieles ist noch ungeklärt und noch mehr ungesagt geblieben. Doch man muss Vergangenes loslassen. Nur dann wird sich unser Leben spürbar verändern.

Mein Mann und ich haben unserer Tochter verziehen, und es geht unter die Haut, wenn sie heute zu uns sagt: ,Ich danke euch für eure grenzenlose Liebe, und dass ihr immer für mich da seid.' Der Kampf hat sich gelohnt!"