Pia ist volljährig und magersüchtig. Sie lehnt jedes Behandlungsangebot ihrer Eltern ab. Was diese dennoch tun können, um sie zu retten.

Anne, 48, schreibt verzweifelt: "Mein Mann und ich müssen seit drei Jahren mit ansehen, wie unsere jetzt 18-jährige Tochter in einem schleichenden Prozess magersüchtig wird. Bis heute kennt niemand den Grund dafür, denn Pia lässt niemanden mehr an sich heran. Aus dem einst so fröhlichen, kontaktfreudigen und sportbegeisterten Mädchen wurde ein junger Mensch, der keine Musik mehr hört, keine Freunde mehr trifft und sich in seinem Zimmer einigelt. In unserer einst fröhlichen Familie herrscht eine bleierne Atmosphäre. Ich kann doch unsere Tochter nicht aufgeben, muss mich aber der bitteren Erkenntnis stellen, dass niemand unserer Pia helfen kann, solange sie nicht die Einsicht hat, dass sie Hilfe benötigt. Sie ist volljährig, 'erwachsen', und Eltern, auch wenn sie spüren, wie sehr ihr Kind sie gerade jetzt benötigt, haben 'kein Recht', sich in das Leben einzumischen. 'Warten Sie, bis der biologische Prozess seinen Lauf nimmt und sie zusammenbricht. Dann kann sie zwangseingewiesen werden.' So der Satz einer Beratungsstelle. Manche sterben vorher. Ich will nicht warten, bis unser Kind zugrunde geht. Was aber können wir noch tun?"

Es antwortet Prof. Dr. Georg Romer, Stellv. Direktor der Klinik für Kinder-und Jugendpsychiatrie am UKE:

Magersucht ist eine gefährliche, vorwiegend seelisch bedingte Erkrankung, die unbehandelt ein nennenswertes Risiko hat, tödlich zu verlaufen. Meist fängt es damit an, dass junge Menschen, die überempfänglich sind für die bei uns vorherrschenden Leistungs- und Schlankheitsideale, sich auf die Idee fixieren, möglichst dünn - und bei jungen Männern zudem muskulös - sein zu müssen.

Aus ehrgeizig durchgeführten Hungerdiäten und Trainingsplänen entsteht schleichend eine krankhafte Sucht. Die Gedanken kreisen dann fast nur noch um die zwanghafte Kontrolle möglichst geringer Kalorienzufuhr und um das Gefühl, zu dick zu sein, obwohl der Körper bereits deutlich abgemagert ist. Bis kurz vor dem Eintreten lebensbedrohlicher Herzrhythmusstörungen können Erkrankte dabei den trügerischen Eindruck erwecken, dass sie noch in einem hinreichend guten Allgemeinzustand sind. Bei Mädchen beginnt die Erkrankung meist in der Pubertät, bei Jungen, die deutlich seltener, jedoch zunehmend häufiger betroffen sind, meist zwischen 18 und 20 Jahren.

Was können Angehörige tun?

Zunächst muss durch eine fachärztliche Untersuchung die Diagnose einer Magersucht gesichert werden, damit andere Ursachen für ähnliche Zustandsbilder, wie z. B. eine wahnhafte Psychose oder ein Hirntumor, nicht übersehen werden. Bei Jugendlichen sollte eine Vorstellung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie erfolgen, bei Erwachsenen in einer psychosomatischen Fachklinik bzw. jeweils entsprechend bei einem niedergelassenen Facharzt. Wird eine solche Vorstellung bereits verweigert, ist dies sehr besorgniserregend.

Bei fortgeschrittener Magersucht kann nämlich die Einsichtsfähigkeit krankheitsbedingt so stark eingeschränkt sein, dass Betroffene nicht mehr selbstverantwortlich entscheiden können. Wie bei jeder anderen Suchterkrankung auch kann man letztlich niemandem helfen, der sich nicht helfen lassen will. Psychisch erkrankte Menschen ab dem 18. Lebensjahr dürfen gegen ihren Willen nur bei akut bedrohlicher Selbst- und Fremdgefährdung mit Gerichtsbeschluss in ein Krankenhaus eingewiesen werden.

Das bedeutet jedoch nicht, dass Angehörige immer ohnmächtig warten müssen, bis es akut lebensbedrohlich wird. Über den Sozialpsychiatrischen Dienst des Gesundheitsamtes kann ein amtsärztlicher Hausbesuch veranlasst werden. Der Arzt macht sich ein Bild vom Gesundheitszustand des Betroffenen und berät den Erkrankten und seine Angehörigen über mögliche Hilfen. Den Betroffenen zu motivieren, Hilfe anzunehmen, gelingt meist, wenn die ernsthafte Besorgnis um das Leben des Erkrankten zum Betroffenen durchdringt.

In extrem ausweglos erscheinenden Fällen kann die Familie über das Vormundschaftsgericht die vorübergehende Einsetzung eines gesetzlichen Betreuers für die Gesundheitsfürsorge erwirken, der den Erkrankten auch gegen dessen Willen in ein Krankenhaus einweisen lassen kann.

Wie können wir vorbeugen?

Je früher und konsequenter eine Behandlung einsetzt, desto besser stehen die Chancen auf eine Heilung. Genau dieses Ziel hat sich unser Projekt "Gesundheitsnetz Magersucht und Bulimie" im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Hamburger Verbundprojekts PSYCHENET ( www.psychenet.de ) gesetzt. Gemeinsam mit der Psychosomatik am UKE, Leitung Prof. Bernd Löwe, wollen wir alles tun, damit Verläufe immer seltener werden, in denen die Betroffenen aus dieser selbstzerstörerischen Sucht nicht mehr herausfinden.