Anne S. spürt eine tiefe Lebenskrise, sie ist unzufrieden mit ihrem bisherigen Leben in ihrer langjährigen Ehe. Solche Krisen sind keine Seltenheit.

"Auf meine Mitmenschen wirke ich ausgeglichen. Keiner ahnt, was mich bedrückt. Seitdem unser Sohn aus dem Haus ist, quälen mich Gedanken über mein bisheriges Leben. Ich grüble ständig über Vor- und Nachteile eines Neuanfangs. Vielleicht hilft mir ein kompetenter Rat, meinen Weg zu finden.

Ich kenne meinen Mann seit 36 Jahren, wir sind drei Jahrzehnte verheiratet. Wenn Freunde das bewundern, muss ich mich abwenden, weil mir Tränen in die Augen schießen, weil ich genau in dem Moment mit mir in höchstem Maße unzufrieden bin. Denn für mich ist die Tatsache des langen Verheiratetseins nichts, worauf ich stolz sein kann. Ich schäme mich sogar dafür und komme mir einfältig vor. Und doch fällt es mir schwer, einem Außenstehenden das zu erklären, jeder Versuch endet mit Unverständnis. Denn mein Mann ist ein lieber, netter, ein grundguter Mensch, den jeder genauso einschätzt.

Im Laufe unserer Ehe hat es sich allerdings herauskristallisiert, dass ich die Verantwortung für unser gemeinsames Leben übernommen habe. Und zwar für alle Bereiche (Einkaufen, Einrichten, Urlaubsplanung, Anschaffungen, Unternehmungen, Kindererziehung), einfach alles. Ich habe diese "Bürde" von Anfang an unbemerkt übernommen. Heute habe ich den Eindruck, mein Mann hat sie mir gern überlassen. Am meisten grämt mich dabei: Er ist so überaus zufrieden und selbstgenügsam. Für ihn ist alles, so wie es ist, gut und richtig. Er stellt keine Ansprüche an sich, er hat keinen Ehrgeiz, keine Lebenspläne, Träume oder gar Illusionen.

In meinem tiefsten Innern beneide ich ihn vielleicht sogar um seine gottverdammte Grundzufriedenheit.

Habe ich ihn in allergrößter Wut ab und zu zur Rede gestellt, war er erst knurrig, dann hat er eingelenkt, 14 Tage lang sich redlich bemüht, anders zu sein, danach lief alles im alten Trott weiter. Ich komme mir schon so vor, als würde ich gar kein eigenes Leben haben, als wäre mein Mann an mich angewachsen. Er verlässt sich hundertprozentig auf mich. Ich kann vermutlich aus dieser Verantwortung nicht mehr raus. Wer wirft schon eine jahrzehntelange Ehe wegen solcher Lappalien weg, wo doch bei uns alles so harmonisch zugeht? Immer wieder frage ich mich: Warum habe ich ihn geheiratet und die Pflicht übernommen, ihn durchs Leben zu führen? Was hätte alles noch gewesen sein können, wenn ich jemanden mit Ideen und Elan an meiner Seite gehabt hätte, der mich durchs Leben gezogen hätte? Dann mache ich mir Vorwürfe, nicht alle Möglichkeiten, die ein Leben bietet, ausgeschöpft zu haben, die nur mir guttun. 'Denn ein Leben nur, ein einziges, hat jeder. Es ist aber für dich fast abgelaufen, und du hast in ihm keine Rücksicht auf dich selbst genommen, sondern hast getan, als ginge es bei deinem Glück um die anderen Seelen. Diejenigen aber, die die Regungen der eigenen Seele nicht aufmerksam verfolgen, sind zwangsläufig unglücklich' (zitiert nach Pascal Mercier). Leben lässt sich nicht wiederholen. Und doch: Sollte man nicht einen Neuanfang wagen?"

Anne S.

Es antwortet die Psychologin und Dozentin Uta Buresch:

Vor 36 Jahren haben Sie sich kennengelernt. Vermutlich haben Sie sich als eine aktive, entscheidungsfreudige und fürsorgliche Frau gezeigt. So eine Partnerin wünschte sich Ihr Mann, eine Frau, die wusste, wo's langgeht. Sie haben die erwartete Rolle ausgefüllt, 30 Jahre lang. Sie waren die "Bestimmerin" in der Familie. Ihr Mann hat Sie machen lassen. So sollten Sie sein, so waren Sie gewollt.

Diese Rolle hatte Vorteile: keine Meinungsverschiedenheiten und keine Auseinandersetzungen. Sie trafen die Entscheidungen, Ihr Mann hatte seine Ruhe. Es gab und gibt bis heute Anerkennung durch Verwandte und Freunde für das harmonische Zusammenleben, für Außenstehende beispielhaft. Aber: Das ist nur eine Seite von Ihnen.

Die andere Seite, die Frau, die umsorgt sein will, die sich anlehnen möchte, die konnten Sie nicht leben. Und auch der Teil Ihres Wesens, der ein Gegenüber mit eigenen Ansichten, Standpunkten und Wünschen brauchte, der einen Partner wollte, an dem man sich reiben und wachsen kann, auch dieser Teil konnte nicht verwirklicht werden. In einer solchen Beziehung kann man sich trotz der scheinbaren Harmonie sehr allein gelassen fühlen.

Sie haben Ihre Familie gemanagt. Das hat nicht nur Sie, sondern auch Ihren Mann eingeschränkt. Wenn er etwas nicht wollte, war er "knurrig" und redete nicht. Auch er konnte in 30 Jahren nicht Partner auf Augenhöhe sein. Vielleicht gab es auch bei ihm den Wunsch zu umsorgen und zu unterstützen. Sie haben sich durch ihre einseitigen Rollen gegenseitig gehindert, andere Möglichkeiten zu leben, sich zu entfalten und zu wachsen. Der Unterschied zwischen Ihnen: Der eine scheint zufrieden, die andere ist unzufrieden.

Sie erkennen heute Ihre Unzufriedenheit, dass in den 30 Jahren etwas für Sie nicht stimmig war. Das macht Sie traurig. 30 Jahre friedlich zusammengelebt, einen Sohn in einer harmonischen Beziehung aufgezogen zu haben, erscheint Ihnen nicht mehr so bedeutsam. Immer noch haben Sie im Blick, was die anderen über Ihre Ehe und Familie denken. Sie erlauben sich noch nicht, Ihre andere Seite zu zeigen und zu leben. Zu sich selbst stehen erfordert Mut. Man muss aushalten, dass nicht alle Menschen Veränderungen und neues Handeln verstehen und gut und richtig finden. Einige Freunde werden vermutlich verständnislos den Kopf schütteln: "Wer keine Probleme hat, macht sich welche." Das müssen Sie aushalten, wenn Sie zu sich selbst stehen wollen. Sie möchten einen Rat; jemanden, der Ihnen sagt, was Sie tun können. Ein Rat würde in die Sackgasse führen. Niemand kann wissen, was für Sie richtig oder falsch ist. Sie müssen es für sich herausfinden. Sie sind stark, Sie denken viel über sich nach, Sie sind sich selbst ehrlich gegenüber. Das sind gute Fähigkeiten, um den eigenen Weg zu finden und zu gehen. Mut gehört dazu, den wünsche ich Ihnen.