Ein Schweizer Modell macht Schule: Eigenverantwortung ist das zentrale Motiv an der Staatlichen Berufsschule Gesundheitspflege in Wilhelmsburg.

Wilhelmsburg. Reinhard Arndt hielt sich für einen guten Lehrer. Er nahm sich Zeit für die Vorbereitung des Unterrichts, vermittelte seinen Stoff locker und unterhaltsam. Gar nicht so einfach bei Themen wie "Kaufvertrag" oder "bargeldloser Zahlungsverkehr". Arndt unterrichtete Wirtschaftslehre und Politik an der "Staatlichen Berufsschule Gesundheitspflege W 4" in Wilhelmsburg. Die Schüler folgten dem Unterricht willig, ihre schriftlichen Leistungen waren in Ordnung.

Dann machte Arndt ein Experiment. Zum gleichen Stoff, den er seit Wochen behandelte und zu dem seine Schüler bereits eine angekündigte schriftliche Arbeit verfasst hatten, ließ er eine zweite, unangekündigte Arbeit schreiben. Das Ergebnis empfand er als "niederschmetternd." Er wiederholte das Experiment mehrfach. "Die zweite Arbeit war nie besser, meistens schlechter als die erste." Dem Lehrer war klar: seine Lehrbemühungen hatten in den Köpfen der Lernenden so gut wie keine Rückstände hinterlassen. Nicht fürs Leben lernten die Schüler, sondern für den nächsten Test.

Das Problem war klar. Alle öffentlichen Diskussionen darüber endeten mit Verantwortungs- und Schuldzuweisungen. Am Ende hieß es immer: Das System ist schuld. 20 Jahre vergingen, Reinhard Arndt wurde Leiter seiner Berufsschule mit 2000 Schülern und 65 Lehrern. Er war jetzt das System. Über all die Jahre waren sich Arndt und Kollegen einig: Man müsste die Schüler individueller ansprechen und dazu bringen, Verantwortung für sich und ihr Lernen zu übernehmen. Einer aus der Gruppe hörte von Andreas Müller, Leiter des privaten Alpeninternats Beatenberg oberhalb des Thuner Sees. Der Mann hatte ein System entwickelt, das nicht nur das Lernen seiner Schüler verbesserte, sondern sie auch besser auf eine Zukunft vorbereitete. Die Gruppe der Berufsschule fuhr hin - und kam zum Entschluss: Wir machen das nach.

"Pronele" wurde gegründet, die "Projektgruppe Neues Lernen". Ziel: ab dem Schuljahr 2009/2010 für die Neuanfänger die Hälfte des Unterrichtsstoffs im Selbstlernkonzept zu organisieren. 13 Kollegen arbeiten mit, 24 lassen sich an der Kieler Universität zu Lern-Coaches ausbilden.

Der Grundgedanke: "Lernen orientiert sich nicht an Defiziten, sondern an Erfolgen; der Schüler weiß, was er schon kann und wo er hinwill; und dass nicht alle zur gleichen Zeit das Gleiche lernen müssen, sondern jeder in seinem Tempo", sagt Projektleiter Stefan Kurbjuhn. "Wir wollten", ergänzt seine Kollegin Monika Schierhorn, "jeden Schüler genau dort abholen, wo er ist." Da gab es ein Problem, das sie unterschätzt hatten: "Jeder Schüler ist woanders."

Die "Staatliche Berufsschule Gesundheitspflege W 4" bildet hauptsächlich "Zahnärztliche Fachangestellte" im dualen System aus, drei Tage Arztpraxis, zwei Tage Schule; die Schüler, fast ausnahmslos junge Frauen, kommen von der Hauptschule, der Realschule oder vom Gymnasium, oft auch aus anderen Ausbildungsgängen, die sie abgebrochen haben. Also muss man Schülern Unterrichtsmaterial mit verschiedenen Niveau-Stufen zur Verfügung stellen. Die gab es aber nicht. Man musste sie erarbeiten. "Wir sind alle zwölf Lernfelder durchgegangen", sagt Stefan Kurbjuhn, "haben diskutiert, welche sich für das Selbstlernmodell eignen, und haben dann Arbeitsgruppen gebildet, von denen Niveau-Stufen definiert wurden." Ein gigantischer Aufwand, wobei die "Pronele"-Gruppe schnell auf ein zweites Problem stieß: Auch jeder Lehrer ist woanders. "Lehrer", sagt Reinhard Arndt, "sind traditionell Schulflüchter". 50 Prozent ihrer Arbeitszeit verbringen sie in der Schule, die andere Hälfte zu Hause mit Vorbereitung und Korrekturen. Das neue Modell aber fordert mehr Präsenz.

Arndt versucht jetzt, mit der Einrichtung attraktiver Arbeitsplätze in der Schule mehr Lehrer zur Verlagerung ihrer Arbeit und damit zum längeren Bleiben und zur Einbindung in das angelaufene Modell zu bewegen. Als die Schüler im September 2009 mit dem reformierten Lernsystem bekannt gemacht wurden, reichten die Reaktionen von Verblüffung bis Verzweiflung. "Ich war total verwirrt", sagt Carolin Seeger, die 2008 Abitur gemacht und dann zwölf Monate in verschiedenen Jobs gearbeitet hatte. Plötzlich war alles anders. "Jetzt war kein Lehrer da, und gelernt werden sollte in der Schule." Es dauerte nicht lange, bis sie spürte, dass das ihr viele Vorteile bot. "Die Motivation ist größer. Man kann ja seinen Lernnachweis in ganz unterschiedlichen Formen abliefern, das weckt die Kreativität." Ein "Riesenfragezeichen" habe sie zuerst im Gesicht gehabt, erinnert sich Schülerin Bahara Zargaran. "Aber als ich meinen ersten Lernjob gemacht, den Nachweis abgeliefert hatte und meinen ersten Punkt dafür bekam, war das ein tolles Gefühl. Alles aus eigener Kraft!" Wer schnell lernt, kann die Berufsschulzeit verkürzen.

Zu Beginn, bekennen die jungen Frauen, hätten sie auf die "Selbstlernzeit" reflexartig reagiert. "Kein Lehrer da? Cool!" Und schon saßen sie um die Ecke bei McDonald's. "Aber man lernt, dass man selbst die Verantwortung für sich hat." Die Schülerinnen, die jetzt ein Jahr mit dem Konzept der Selbstlernzeit arbeiten, lassen keinen Zweifel daran, dass es für sie ein Erfolgsmodell ist. Auch die beteiligten Lehrer ziehen eine positive Bilanz des ersten Jahres mit dem neuen Konzept. Allerdings: "Es kostet in der Pionierphase deutlich mehr Zeit als herkömmlicher Unterricht, und keiner weiß, wie lange die Pionierphase dauern wird", sagt Monika Schierhorn.

Vielversprechende Erfahrungen hat man mit einem ähnlichen Weg an der Max-Brauer-Schule in Altona gemacht. Vielleicht sollten auch andere Stadtteilschulen und Gymnasien sich diese Reformmodelle ansehen.