Rund 70 türkische Zehntklässler haben verteilt auf die Hamburger Rudolf-Steiner-Schulen regelmäßig am Unterricht teilgenommen.

Hamburg. Cansu hört daheim in Istanbul Lady Gaga oder Green Day. Merle und Farina aus Hamburg haben einen ähnlichen Musikgeschmack. Kaans Lieblingsfilm ist "Interception" mit Leonardo DiCaprio. Den mag Antonia auch. Cagatayhan hat zuletzt in Istanbul "Soul Kitchen" gesehen. Natürlich kennt Sonja den Hamburger Kultfilm. "Bei uns lief der allerdings mit türkischen Untertiteln", sagt Kaan.

Das ist aber auch der einzige Unterschied, den die türkischen und deutschen Schüler an diesem Morgen beim Treffen in Eimsbüttel feststellen können. Das Fazit ihrer kleinen Gesprächsrunde entspricht dem ihres dreiwöchigen Beisammenseins: Wir haben mehr gemeinsam, als wir dachten.

Seit dem 21. August haben rund 70 türkische Zehntklässler des deutschsprachigen Gymnasiums Istanbul Lisesi - verteilt auf die Hamburger Rudolf-Steiner-Schulen in Harburg, Nienstedten und Bergedorf - regelmäßig am Unterricht teilgenommen. Sie haben den Alltag in der Hansestadt kennengelernt, die TU Harburg und Airbus auf Finkenwerder besucht und einen Ausflug nach Berlin unternommen. Mit ihren neuen deutschen Freunden.

Auf der Fahrt in die Hauptstadt haben sie im Bus zusammen den 80er-Jahre-Schlager "Was wollen wir trinken" gesungen. Das hatten die deutschen Schüler den türkischen zuvor im Musikunterricht beigebracht. Unterm Brandenburger Tor haben die türkischen Jugendlichen ihren deutschen Schulkollegen einen "Liebestanz" gelehrt. "Unsere Türken sind ziemlich cool", hat Merle im Internet gebloggt.

Solche Sätze sind es, die Erhan Erdogan glücklich machen. Der Direktor und Gründer der Eimsbütteler Sprachschule Institut Independencia, selbst Absolvent des Lisesi-Gymnasiums, hatte 2006 den Austausch von Schülern der Rudolf-Steiner-Schulen in Hamburg und seiner Heimatstadt Istanbul ins Leben gerufen. "Das türkische Gymnasium hat einen naturwissenschaftlichen Schwerpunkt. Die Rudolf-Steiner-Schulen legen dagegen sehr viel Wert auf handwerkliche Fertigkeiten", sagt Erdogan. So ergänzten sich die Konzepte zunächst inhaltlich perfekt. Sprachprobleme gab es nicht: Die Lisesi-Schüler haben Deutsch als erste Fremdsprache gelernt und sprechen sie in den Unterrichtsfächern Mathematik, Physik, Biologie und Chemie.

Die persönlichen Begegnungen bildeten schnell die andere, inzwischen fast tragende Säule des interkulturellen Austauschprogramms. Projekte wie dieses seien die besten Antworten auf die aktuelle Integrationsdebatte in Deutschland. "Thilo Sarrazin und die Befürworter seiner Thesen dividieren die Menschen auseinander. Wir suchen die Gemeinsamkeiten. Die finden wir nur, wenn wir uns begegnen." Der Fokus liege auf dem Abbau von Ängsten, Intoleranz und Vorurteilen.

Letzteres ist Ege aus Istanbul in den vergangenen drei Wochen gelungen. "Bevor ich nach Hamburg kam, habe ich Deutsche für kalte Menschen gehalten", sagt die 15-Jährige. "Das stimmt überhaupt nicht. Sie sind sehr warmherzig." Sie habe eine echte Freundin in Bergedorf gefunden.

"Seit 2006 sind durch unser Austauschprogramm 1000 deutsche und türkische Schüler hin und her gereist", sagt Erhan Erdogan. Mitsamt Freunden und Verwandten in den jeweiligen Ländern macht das 10 000 Menschen, die positive Eindrücke voneinander gewonnen haben." Erhan Erdogans Traum: Er möchte diese Form des Austausches zwischen türkischen und deutschen Schulen auf ganz Hamburg ausbreiten. Lehrerin Marie-Luise Sparka ist überzeugt, dass das Programm einen wichtigen Baustein des Zusammenlebens von Deutschen und Türken in Hamburg ist: "Der Umweg über Istanbul ist dabei sehr sinnvoll. Die Jugendlichen treffen unvoreingenommener aufeinander, als es Deutsche und Migranten in der Hansestadt tun."

Die Schüler haben in den drei gemeinsamen Wochen ihrer Freizeit ein künstlerisches Abschlussprojekt erarbeitet. Zu sehen ist es heute von 17 Uhr an in der Aula der Rudolf-Steiner-Schule Bergstedt, Bergstedter Chaussee 207.