Nike, Finn und Kaya sind die einzigen Schüler auf der Insel Neuwerk. Reformpädagogik gehört hier längst zum Alltagsgeschäft.

Hamburg. Es hat etwas von einem Blick zurück in die Zukunft: Nike, Finn und Kaya sitzen in einem Klassenzimmer, haben eine Lehrerin und lernen in allen Schulstunden zusammen - obwohl sie in unterschiedlichen Jahrgängen sind. "Was drüben in der Stadt gerade mühsam eingeführt wird, wird hier seit fast 100 Jahren praktiziert", sagt Lehrerin Maike Müller-Toledo, 50. Anders ginge es auch gar nicht in der Inselschule Neuwerk. Hamburgs kleinste Schule hat nur drei Schüler. Reformpädagogische Schlagwörter wie individualisierter Unterricht, jahrgangsübergreifende Lerngruppen oder Binnendifferenzierung, die auf dem Festland gerade heiß diskutiert werden, sind hier schlicht Alltagsgeschäft.

Auch an diesem Schulmorgen. Auf dem Stundenplan steht Deutsch. "Wir schreiben heute einen Test", sagt Lehrerin Müller-Toledo. Kurze Schrecksekunde. Beruhigen. Dann verteilt sie die Aufgabenbögen. Für jeden gibt es einen anderen. Nike, 10, bekommt den schwersten. Sie ist schon in der vierten Klasse. Finn, 9, besucht die dritte Klasse und Kaya, 7, die erste. Konzentriert beugen sich die Inselschüler über ihre Zettel. Schummeln ausgeschlossen. Die Lehrerin guckt auf die Uhr. "Ihr habt 20 Minuten." Nur Nesthäkchen Kaya darf ein bisschen länger arbeiten. "Nein", sagt die Lehrerin streng, als sie Hilfe suchend aufschaut, "ich kann dir jetzt gar nicht helfen."

Danach geht es weiter mit Mathe. "Ich rechne jetzt schon bis 1000", sagt Finn stolz, während er sein Arbeitsheft aus der Tasche holt. Kayas Obergrenze liegt bei 20, Nike ist beim großen Einmaleins. "Wir helfen uns auch viel gegenseitig", sagt sie.

Eine Schule wie aus einem Buch von Astrid Lindgren. Spitzes Dach, roter Klinker. Die hohen, in freundlichem Gelb gestrichenen Wände im einzigen Klassenraum sind mit Bildern zugepflastert. In einer Ecke lehnt eine Gitarre, schräg gegenüber steht Schul-Skelett Franz, und auf einem großen Tisch ist eine Indianerlandschaft aufgebaut. "Das war ein Projekt im fächerübergreifenden Sachunterricht", sagt die Lehrerin. Sie wohnt auch im Schulhaus.

Jeden Morgen um 8 Uhr stehen ihre drei Schüler vor der Tür. Unterricht ist bis 13 Uhr und am Donnerstag auch am Nachmittag. Los geht es mit einer Musikstunde. "Danach machen wir immer Deutsch und Mathe, die anderen Fächer wechseln", sagt die Inselpädagogin. Maßgeblich ist der Hamburger Rahmenplan. "Das läuft alles ganz normal."

Nur eben en miniature. Der weitläufige Garten um das Schulhaus ist der Schulhof. Die Sporthalle ist im ersten Stock des früheren Stalls und wird vom TSV Neuwerk mitbenutzt. Gerade mal 29 Erwachsene und sieben Kinder leben auf dem Eiland in der Elbmündung, mehr als 100 Kilometer von Hamburg entfernt. "Die Inselkinder haben eine ganz besondere Schulzeit", sagt Maike Müller-Toledo. Das fängt schon bei der Einschulung an. In Hamburg legt den Termin die Schulbehörde fest, auf Neuwerk richtet er sich nach Ebbe und Flut. Bei Kaya war es im vergangenen Jahr an einem Montag um 7.30 Uhr - weil ihre Eltern aufs Festland mussten.

Obwohl das Angebot offiziell bis zum Hauptschulabschluss reicht, verlassen die heutigen Schüler die Inselschule meist schon nach der vierten Klasse. Fast alle wechseln auf das Internat in Bad Bederkesa, das speziell für die niedersächsischen Inselkinder ausgelegt ist. Auch die großen Geschwister der drei Inselschüler sind schon dort. Nach den Ferien ist Nike die nächste. Leicht ist das nicht. Aber die Zehnjährige sagt: "Ich freue mich schon doll darauf, endlich Gleichaltrige zu haben." Kaya und Finn nicken eifrig. Schulkameraden, die vermissen sie am allermeisten. "Ich habe hier niemand zum Fußballspielen", stöhnt Finn. "Die Mädchen können das einfach nicht."

"Alles, was mit Gruppen zu tun hat, geht hier nicht. Das ist der größte Nachteil", sagt Pädagogin Müller-Toledo. Damit ihre Schüler auch mal sehen, wie es an anderen Schulen zugeht, hat sie vor ein paar Wochen eine Schulreise gemacht - für eine Woche an die Katharinenschule in der HafenCity. Beide Schulen gehören zum Bezirk Mitte. Der Austausch soll weiter ausgebaut werden. "Für die Kinder ist das eine ganz neue Erfahrung", sagt die Lehrerin. Erst 2009 ist sie aus Hamburg nach Neuwerk gekommen - nach 13 Schuljahren an der Grund- und Hauptschule Fährstraße in Wilhelmsburg. "Der Unterschied ist gewaltig, aber mir geht es sehr gut auf Neuwerk."

Trotzdem ist ihre Zeit möglicherweise begrenzt. Denn der Inselschule gehen die Schüler aus. Im nächsten Schuljahr drücken nur noch Finn und Kaya die Schulbank. 2012, wenn die Schule 100 Jahre alt wird, ist Kaya die Einzige. Sie müsste, sollte die sechsjährige Primarschule eingeführt werden, bis 2015 bleiben. "Aber die Behörde hat schon signalisiert, dass es für die Inselkinder eine Ausnahmeregelung geben soll und sie auch früher wechseln können", sagt Lehrerin Müller-Toledo.

Egal wie Kaya und ihre Eltern sich entscheiden - geschlossen wird die Inselschule nicht, sondern nur zeitweise stillgelegt. Das regelt ein Vertrag. Seit Kurzem gibt es aber einen Hoffnungsschimmer. Ein neues Inselkind wurde geboren. Einschulungstermin 2016.