Ohne Frage wagt Hamburg in einem atemberaubenden Tempo eine Reform, bei der kaum ein Stein auf dem anderen bleibt.

Hamburg. Die Diskussion um die Schulreform in Hamburg zeigt: Schule bleibt die umstrittenste Dauerbaustelle der Nation. Jede Landesregierung, so scheint es, versucht sich daran - zumal dann, wenn sie neu ins Amt kommt. Ohne Frage wagt Hamburg in einem atemberaubenden Tempo eine Reform, bei der kaum ein Stein auf dem anderen bleibt. Das achtjährige Abitur ist noch nicht verdaut, unter dem Vorschlag der Enquete-Kommission zur Stadtteilschule ist die Tinte kaum trocken, da kommt die sechsjährige Primarschule. Das Sitzenbleiben wird abgeschafft und das Elternwahlrecht ebenso. Die Befürworter der Reform hoffen auf den großen Wurf, die Gegner befürchten hingegen die totale Überforderung der Schüler, Lehrkräfte und Eltern.

Betrachtet man den Status quo des Hamburger Schulsystems, dann kann zumindest damit niemand so recht zufrieden sein: Im internationalen und nationalen Vergleich kommen wir über Mittelmäßigkeit nicht hinaus, und der Bildungserfolg hängt immer noch im viel zu großen Maß von der sozialen Herkunft ab. Auf den Punkt gebracht: Unser Bildungssystem ist weder besonders leistungsstark noch gerecht.

Wie problematisch das ist, zeigt ein Blick in die Realität unseres Landes. Deutschland hat sich in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch verändert. Von den Kindern unter sechs Jahren stammt mehr als ein Drittel (34 Prozent) aus Zuwandererfamilien. Bei den über 25-Jährigen sind es lediglich 16 Prozent - also nicht einmal halb so viele. Und in großen Metropolen wie Hamburg ist die Vielfalt der Bevölkerung noch ausgeprägter und nimmt noch zu. Zu wenige dieser Kinder machen Abitur, zu viele scheitern in der Hauptschule. Gleichzeitig gehen in Hamburg 42 Prozent der Achtklässler auf ein Gymnasium - und darunter, seien wir ehrlich, sind nicht wenige, bei denen es eher der Elternwille als die Leistung war, die sie dahin brachte.

Vielfalt ist in unserer Gesellschaft also längst nicht mehr Ausnahme, sondern Normalfall - und sie ist die Zukunft in einem Land, das angesichts der demografischen Entwicklung mehr und mehr auf Zuwanderung angewiesen ist. Bisher gelingt es aber keinem Bundesland, eine gleichberechtigte Teilhabe der Kinder mit Migrationshintergrund und aus sozial benachteiligten Familien im deutschen Bildungssystem zu realisieren. Bisher gelingt es aber auch keinem Bundesland, überzeugende Antworten darauf zu geben, dass die Bandbreite der Leistungen in den Gymnasien immer mehr zunimmt und auch dort jedem Kind eine faire Chance eingeräumt werden sollte.

Wenn Schule aber die kulturellen und sozialen Unterschiede in der Bevölkerung verstärkt und wenn die vermeintlich Starken in das private Bildungswesen abwandern, gefährdet das den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Die zentrale Herausforderung für Schulreformen in Deutschland lautet daher, angemessenen mit der kulturellen, aber auch der steigenden sozialen Heterogenität umzugehen und gleichzeitig das Leistungsniveau zu steigern. Dazu muss Schule sich im Innern neu erfinden: Ins Zentrum rückt das einzelne Kind mit seinem Potenzial, individuelle Förderung wird zum Kern von guter Schule. Der Einzelne zählt, nicht die Klasse: Unterschiedliche Lerngeschwindigkeiten sind ebenso möglich wie verschiedene Formen des Lernens. Die heutige Ausrichtung des Schulsystems auf homogene Lerngruppen führt in die Sackgasse. Die von dem ersten deutschen Pädagogikprofessor Trapp vorgegebene Philosophie, Schule müsse sich an den "Mittelköpfen" ausrichten, ist eine Illusion angesichts der großen Heterogenität.

Individuelle Förderung als Kern guter Schule löst auch einen vermeintlichen Widerspruch auf, der die Schulreformen in den vergangenen Jahrzehnten behindert hat. Es wurde immer wieder der Eindruck vermittelt, Leistung und Gerechtigkeit seien im Bildungssystem Gegensätze. Das Credo lautete, wer die Schwachen stärkt, schwächt die Starken. Länder wie Kanada zeigen aber, dass das ein Mythos ist: Toronto mit 75 Prozent Kindern mit Migrationshintergrund erreicht ein sehr hohes schulisches Leistungsniveau. Dort wird Vielfalt als Chance begriffen, nicht als Risiko. Ressourcen landen da, wo sie am dringensten gebraucht werden. Vor allem aber: Es herrscht eine Lernkultur, die konsequent individuell fördert und das familiäre und nachbarschaftliche Umfeld einbezieht. Um nicht missverstanden zu werden: Individuelle Förderung bedeutet auch dort keinenfalls Gleichmacherei. Unterschiedliche Leistungen und unterschiedliche Lerngeschwindigkeiten sind normal und Kern des pädagogischen Konzepts - aber nicht normal ist, dass die Leistung an den sozialen Status der Eltern gekoppelt ist.

Diese Beispiele zeigen aber auch, dass das bloße Verändern von Strukturen allein nicht reicht. Jede strukturelle Reform verpufft, wenn nicht auch die Lehr- und Lernkultur weiterentwickelt wird. Nehmen wir das Beispiel Sitzenbleiben: Zahlreichen Studien zufolge kostet das viel und nützt weder dem betroffenen Schüler noch der restlichen Klasse etwas - das "Problem" wird nicht gelöst, sondern nur verschoben. Das bloße Abschaffen des Sitzenbleibens bringt aber nichts, wenn das Konzept dafür fehlt, wie Lehrer gleichzeitig schwächere und stärkere Schüler fördern können. Ähnliches gilt für das längere gemeinsame Lernen. Das ist eine sinnvolle Konsequenz einer individuell fördernden Schule, keine Voraussetzung.

Wir haben in Deutschland viel zu lange eine ideologisch geprägte Schulstrukturdebatte geführt. Nun droht in Hamburg eine Fortsetzung, die es zu verhindern gilt: Kein Weg führt an der Einsicht vorbei, dass Schule sich dramatisch ändern muss, will sie der gesellschaftlichen Wirklichkeit gerecht werden. Damit die nötige Reform aber nicht durch vielfache Überforderungen zum Scheitern verurteilt ist, müssen die Inhalte vor der Struktur kommen. Längeres gemeinsames Lernen ist ebenso wie die Stadtteilschule und das Abschaffen des Sitzenbleibens sinnvoll, wenn die Lehrkräfte und Schulen über die notwendigen Kompetenzen zur individuellen Förderung verfügen. Niemandem ist aber damit gedient, wenn Eltern in der Übergangsphase Angst haben, dass fehlende Räumlichkeiten oder noch nicht hinreichend ausgebildete Lehrer ihr Kind zum Opfer der Reform werden lassen. Alle Kraft muss deshalb in den Kompetenzausbau und Schulumbau investiert werden. Denn strukturelle Reformen können nur in dem Maße und in der Geschwindigkeit greifen, wie Lehrkräfte und Schulen in der Lage sind, individuell zu fördern. Nur dann wird die Reform in Hamburg der dringend nötige große Wurf, nur dann werden Leistung und Gerechtigkeit sich im Schulsystem nicht länger ausschließen - nur dann wird der dringend nötige, gesellschaftliche und überparteiliche Konsens über die Struktur des Hamburger Schulsystems erreicht werden.