Jugendliche leiden an Ess- oder Persönlichkeitsstörungen. Sie leben in der Psychiatrie und besuchen den Unterricht in der Klinik.

Hamburg. Die Mädchen tragen Kapuzenpullis, bunte Halstücher, enge Jeans. Sie kleiden sich so, wie es "in" ist unter Jugendlichen ihres Alters. Zu acht sitzen sie mit Anne Grevenkamp um den Tisch und lernen Englisch. Eine Szene, wie man sie aus vielen Schulen kennt, wenn gerade Gruppenarbeit auf dem Plan steht. Trotzdem ist hier vieles anders: Wenn man den Mädchen ins Gesicht sieht, fällt auf, dass es erhebliche Altersunterschiede gibt. Das jüngste ist 13 Jahre alt, das älteste 17. Eines ist ihnen gemeinsam: Sie leben in der Psychiatrie im Kinderkrankenhaus Wilhelmstift und besuchen die Klinikschule auf dem Krankenhausgelände. Vorübergehend.

Im Schnitt leben die Kinder und Jugendlichen drei bis vier Monate auf der psychiatrischen Station und gehen dann auch hier zur Schule. "Ich werde bis Mitte März bleiben", sagt Zara*. Die 17 Jahre alte Gymnasiastin erzählt ohne Scheu von ihren Essstörungen. "Ich bin an meiner Schule recht offen damit umgegangen und habe es auch meiner Klasse gesagt, dass ich in die Klinik gehe." Auch ihre Mutter habe früher unter Essstörungen gelitten, "das liegt bei uns in der Familie", sagt das hübsche, langbeinige Mädchen und lächelt unbefangen.

Auch Friederike* hat einen langen Leidensweg hinter sich gebracht, ehe sie in der Psychiatrie gelandet ist. "In der Schule haben sie immer auf mir herumgehackt. Ich war stark übergewichtig", erzählt das 14-jährige Mädchen, das nun zart und zerbrechlich wirkt. Seit fast vier Monaten lebt sie in der Psychiatrie. "Bis Mitte Januar soll ich hier bleiben", sagt die Gymnasiastin.

Um den Anschluss an das Schulleben nicht völlig zu verpassen, gehen Zara, Friederike und die anderen Patienten von Montag bis Freitag auf dem Klinikgelände zur Schule. Hier im Haus F leuchten die Wände hellgelb. Die Kinder - vom Erstklässler bis zum Berufsschüler - werden in kleinen Gruppen unterrichtet. Die meisten kommen gern hierher. "Viele Schüler sehen den Unterricht als angenehmen Ausgleich zum Klinikalltag", sagt Mona Meister, die Leiterin der Schule für Haus- und Krankenhausunterricht, die an neun Standorten in Hamburg Klinikschulen unterhält. Anne Grevenkamp ist seit einem Jahr Lehrerin an der Klinikschule im Wilhelmstift. Die 56-Jährige unterrichtet Deutsch, Englisch, Französisch und Kunst. Sie erinnert sich an ihre ersten Tage im Haus F: "Oh, mein Gott, das ist ja alles ganz normal", habe sie sich damals gewundert. "Es ist ein ideales Arbeiten für den Lehrer. Wir arbeiten in Kleingruppen, und meine Schülerinnen sind hoch motiviert und leistungsorientiert. Disziplinprobleme gibt es kaum", sagt die erfahrene Pädagogin, die vorher 18 Jahre an einer Haupt- und Realschule gearbeitet hatte und nun vorwiegend mit Mädchen wie Zara und Friederike zu tun hat, also solchen mit Essstörungen. "Ich sehe schon, dass bei den Mädchen Veränderungen passieren, dass sie offener werden und sich hier wohlfühlen", sagt Grevenkamp. Und so dürfen die Mädchen, die vorher Bedarf angemeldet haben, auch am Ende der Englischstunde an den Computer, um ihre Mails zu checken. "Das ist hier auch die einzige Möglichkeit", sagt Zara.

Der Lehrer Jörg Winter (46) hat vier jüngere Schüler, die an zwei zusammengeschobenen Tischen sitzen, er sitzt mit am Tisch. Alle Kinder haben unterschiedliche psychische Erkrankungen. Manuel* leidet an einer Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung. "Er ist von der Schule geflogen, weil er andere gemobbt hat", sagt Winter. Weil er ständig beobachte, was in seiner Umgebung passiert, sei er kaum in der Lage, dem Unterricht zu folgen. Auch jetzt im Englischunterricht in der Vierergruppe fällt sein lauernder Blick auf. Als sie ein Kapitel von Canterville Ghost lesen sollen, murrt er: "Oh, nicht schon wieder" und gähnt demonstrativ. Michael* ist seit drei Monaten in der Psychiatrie - wegen einer Störung des Sozialverhaltens. "Er ist intelligent, aber sozial unterbelichtet", sagt sein Lehrer über den 13-Jährigen. "Er ist absolut intolerant, lacht andere aus." Soraya* hat ihre Englischmappe nicht dabei, "die habe ich in meinem Zimmer verloren, da ist immer so ein Chaos", erklärt sie. Winter schimpft nicht, diskutiert auch nicht lange, sondern reicht ihr eine Kopie des aktuellen Kapitels rüber.

Die Verhaltensweisen seiner Schüler wirken jede für sich gar nicht so befremdlich, doch alle diese Kinder kamen in der Schule und in ihrem Elternhaus nicht mehr klar. "Hier in der Klinikschule fällt für die Kinder viel Stress weg, sie haben hier eine Auszeit. Die einen werden endlich nicht mehr gemobbt, die anderen trauen sich nachzufragen, wenn sie etwas nicht verstanden haben", sagt Mona Meister, die die Krankenhausschule seit 2003 leitet. Der Schulunterricht gebe den Kindern in ihrem Klinikalltag auch eine klare Struktur.

Mehr als zwei Stunden Unterricht pro Tag sind aber ohnehin nicht drin - die Jugendlichen haben sehr viele Therapietermine. In Ausnahmefällen gehen die Lehrer auch auf die Stationen und unterrichten einzelne Schüler dort.

"Die Zahl der psychisch kranken Kinder nimmt zu", sagt Christoph Napp, der stellvertretende Schulleiter der Schule für Haus- und Krankenhausunterricht. Und so steigt auch die Schülerzahl dieser ganz besonderen Schule. 1500 bis 1600 kranke Kinder in Hamburg werden pro Jahr von den 58 Lehrern unterrichtet. Ehe sie die Klinik verlassen, überlegen die Lehrer gemeinsam mit den Ärzten, wie der Schulbesuch nach der Entlassung für die jungen Patienten weitergehen kann. "Diese Schüler sind ja nicht repariert wie ein Auto, das einen neuen Kotflügel bekommen hat", sagt Mona Meister.

Friederike ist vorsichtig optimistisch, was ihr Leben nach der Klinik betrifft. Sie will nicht mehr auf ihr altes Gymnasium zurück, an dem die Probleme ihren Anfang nahmen: Sie wird die Schule wechseln. "Ich möchte einen Neuanfang", sagt sie mit fester Stimme.

* Namen geändert