Bis morgen läuft das Volksbegehren “Wir wollen lernen“ noch, das sich gegen die Primarschule richtet.

Hamburg. Chancengleichheit heißt das Zauberwort, das alle Schulreformer im Munde führen. Um die Aussicht, im Leben Erfolg zu haben, möglichst gleich zu verteilen, wollen sie die Schule neu einrichten, neu gestalten, neu erfinden - und haben sie auf diese Art in jenen traurigen Zustand versetzt, über den die beiden PISA-Studien Aufschluss gegeben haben.

Aus diesem Misserfolg ziehen die Bildungsgewaltigen den eigennützigen Schluss, mit ihren Gutachten, Untersuchungen und Reformvorschlägen immer weiterzumachen. Das ist jedoch der falsche Schluss, denn was den Schulen fehlt, was Kinder hilflos, Eltern ratlos und Lehrer kopflos macht, ist nicht der Mangel an pädagogischen Experimenten, sondern ihr Übermaß und dessen Folge, das Fehlen von Ruhe und Verlässlichkeit. Das Versprechen, die beste Schule für alle Kinder zu schaffen, ist so oft enttäuscht worden, dass es keinen Glauben mehr verdient.

Entscheidend für den Vertrauensverlust, den die Schulreformer erlitten haben, war ihr Versuch, das Zauberwort umzudeuten. Das geschah, als sie damit begannen, statt gleicher Startchancen Gleichheit der Zielchancen zu versprechen. Die bildungsfeindliche Absicht war leicht zu durchschauen, weil Gleichheit am Ziel ja nichts anderes bedeutet hätte als die totale Gleichmacherei, also Anpassung nach unten.

Mit der Parole "Gleiche Lernziele - gleiche Lernerfolge" haben sich ein paar übereifrige Pädagogen zu dieser Illusion bekannt: eine der vielen kapitalen Dummheiten, mit denen die Dauerreformer ihren Kredit verspielt haben. Sinnvollerweise kann Chancengleichheit ja nichts anderes bedeuten als das gleiche Recht aller Menschen auf die Entfaltung ihrer ungleichen Anlagen; die eben deshalb auch zu ungleichen Ergebnissen führen.

Die Anhänger des gemeinsamen Lernens betrachten den Gesamtvorrat an Fähigkeiten und Fertigkeiten als eine feste Größe, betreiben Bildungspolitik also als eine Art Nullsummenspiel, bei dem der eine so viel gewinnt, wie ein anderer verliert. Wenn irgendjemand besser dasteht, mehr weiß oder mehr kann als ein anderer, dann nur, weil er dem anderen etwas vorenthalten oder weggenommen, ihn also um sein Bildungsrecht betrogen hat. Wörter wie stark und schwach, faul und fleißig, klug und dumm werden ersetzt durch das Begriffspaar privilegiert und unterprivilegiert - und durch den Ruf nach einer Obrigkeit, die den Skandal beendet. Die Bildungsdiebe müssen bestraft, die Bildungsopfer entschädigt werden; und eben dafür sorgt der Staat. Endlich steht er wieder dort, wo er in Deutschland immer schon am liebsten stand, nämlich ganz weit oben.

Der Staat tut, was er kann, und will die Kinder länger beieinander halten: eine schöne Idee, wäre sie nicht mit der Erwartung befrachtet worden, dass gemeinsames Lernen die Unterschiede kleiner werden lässt, nicht größer. Nichts spricht dafür, dass es so kommt. Denn spätestens im 10. oder 11. Lebensjahr brechen "Denkbegabung und Denkbedürfnis in so verschiedener Stärke durch, dass die Unterschiede im Grad der Allgemeinbegabung das Auffälligste sind, was man in diesem Alter beobachten kann. Die Unterschiede werden so krass, dass eine Trennung nach dem Grad der Begabung in irgendeiner Form unerlässlich ist. Kein Lehrer kann einem hochbegabten Elfjährigen, dessen Intelligenz schon voll erwacht ist, und gleichzeitig seinem Gegenspieler, dem nahezu hilfschulbedürftigen Schwachbegabten, ohne organisatorische Sondermaßnahmen in gleicher Weise gerecht werden". Der Autor dieses Zitats war der Gesamtschulpapst Heinrich Roth.

Wer wissen will, warum er früher so und später so sprach, sollte nicht nach neuen Erkenntnissen fragen, sondern nach neuen Moden. Schließlich geht auch die Wissenschaft nach Brot, und das bekommt sie nur zu essen, wenn sie dem Zeitgeist folgt. Der Bildungsforscher segelt vor dem Wind der Zeit; wenn der die Richtung wechselt, wechselt er sie auch. Mit demselben Aplomb, mit dem er seinerzeit für eine frühe Trennung der Schüler eingetreten war, warb Heinrich Roth ein bisschen später für das gemeinsame Lernen, das gar nicht früh genug beginnen und gar nicht lang genug dauern konnte: Als wollte er den alten David Hume bestätigen, der gemeint hatte, dass für die Neuerungen der Mode nichts anfälliger sei als die angeblich definitiven Lösungen der Wissenschaft.

Über den Zeitpunkt, an dem es sich empfiehlt, die Schüler nach Leistung, Neigung und Begabung zu trennen, darf man und wird man streiten. Und selbstverständlich muss man Vorkehrungen treffen, um Fehlentscheidungen zu korrigieren. Das Schulwesen muss durchlässig bleiben für diejenigen, die länger brauchen als die meisten. Das ist ja auch geschehen: Durchlässigkeit war eine Forderung, auf der die Schulreformer zu Recht bestanden haben.

Die banale Wahrheit, dass es die leistungshomogen zusammengesetzte Gruppe nicht nur im Sport, sondern in allen seriösen Disziplinen weiterbringt als der bewusst heterogen zusammengewürfelte Verband, ist durch den Ruf nach Durchlässigkeit aber niemals außer Kraft gesetzt worden. Den Geleitzug, in dem leichte und schwere, kleine und große, starke und schwache, Segel- und Motorschiffe gemeinsam schneller vorankommen als in getrennter Fahrt, gibt es nicht; hat es noch nie gegeben und wird es auch nicht geben. Dass so etwas ausgerechnet in der Schule möglich sei, ist ein Aberglaube, für den es eine Menge von Gegeninstanzen, aber keine Beweise gibt.

Wer den Zusammenhang zwischen Schulerfolg und sozialer Herkunft aufsprengen möchte, der sollte auch verraten, welchen Preis er dafür zahlen will. Stillschweigend setzt er ja voraus, dass Eltern, und zwar alle Eltern, Risikofaktoren sind, vor deren Einfluss die Kinder so früh und so gründlich wie möglich zu bewahren sind. Dass Eltern ihren Kindern etwas mitgeben können, was wertvoll, vielleicht sogar lebenswichtig ist, kommt in dieser Rechnung nicht vor. Die Mühseligen und Beladenen geben den Maßstab ab für alle anderen, also auch für diejenigen, die mehr leisten können und wollen als der Durchschnitt. Der Ruf nach Chancengleichheit verwirklicht sich dann so, dass man die Starken schwächt, ohne die Schwachen zu stärken. Der Amerikaner Christopher Jencks hat das Programm der Gleichheitsfanatiker zu Ende gedacht, als er vorschlug, "sehr begabten Kindern nur ein bis zwei Jahre Schulbildung zu liefern; den Kindern, die etwas über dem Durchschnitt liegen, sechs Jahre; denen, die unterdurchschnittlich lesen, zwölf Jahre; und den sehr langsamen Lernern achtzehn Jahre oder mehr".

Das war das Konzept der damals sogenannten kompensatorischen Erziehung; das allerdings, wie jeder weiß, gescheitert ist. Und das beileibe nicht nur deshalb, weil es die achtzehn Schuljahre für die schwachen Lerner nie gegeben hat (und wohl auch niemals geben wird), sondern vor allem deshalb, weil ein begabter Schüler aus einem einzigen Schuljahr allemal mehr machen wird als ein unbegabter aus zweien. "Wer zu einem bestimmten Zeitpunkt im Vergleich zu anderen über bessere individuelle Lernvoraussetzungen verfügt, wird von gleichen Lernangeboten, Lerngelegenheiten und Lernanforderungen stärker profitieren als andere", heißt der etwas umständlich formulierte Kommentar, mit dem Franz Emanuel Weinert, der frühere Direktor des Max-Planck-Instituts für Schulpsychologie, diese wohlbekannte Tatsache bestätigt hat.

Die Freunde des gemeinsamen Lernens ficht das nicht an. Wenn es so schwer ist, mehr für die Schwachen zu tun, kann man ja weniger für die Starken tun; auch damit kommt man der ersehnten Gleichheit ja ein Stück näher. Ausgesprochen wird das nur ungern und allenfalls verklausuliert; und nur ganz selten so ungeschminkt wie in einer pädagogischen Kampfschrift aus dem Umfeld der GEW, die seinerzeit ausdrücklich dafür warb, den Weg der Bildungsverweigerung für alle bis ans Ende zu gehen. Um Gleichheit herzustellen, heißt es da, müsse verhindert werden, "dass Schüler mit günstigeren Eingangsbedingungen und höherer Lerngeschwindigkeit sich in der frei bleibenden Zeit (den Stunden also, in denen sie vom Unterricht ausgeschlossen sind) zusätzliche Fähigkeiten und Kenntnisse aneignen, die ihnen gegenüber den anderen, sozusagen einfach erfolgreichen Schülern (erfolglose Schüler gibt es ja nicht mehr) doch wieder Leistungsvorteile sichern".

Bremsen also statt fördern. Aber wie macht man das? Zum Beispiel dadurch, dass man die anspruchsvollen Bildungsgänge amputiert. Das Gymnasium also nicht etwa auflöst oder verbietet, sondern dadurch ruiniert, dass man ihm oben und unten etwas abknappst. "Aller guten Dinge sind drei", sagt die Katze im grimmschen Märchen von Katz und Maus in Gesellschaft; dann packt sie die Maus und verschlingt sie. "Aller guten Dinge sind drei", meinen auch die Hamburger Schulreformer und schlagen dem Gymnasium zunächst den Kopf ab und dann die Füße weg; das alles in der Hoffnung, dass der Rumpf der auf fünf oder sechs Klassen reduzierten Schule sein Ziel nicht mehr erreichen kann und irgendwann von selbst abstirbt. Die Verkürzung der Schulzeit auf zwölf Jahre mag sinnvoll oder doch erträglich sein; die Verlängerung der obligatorischen Grundschulzeit von vier auf sechs Jahre ist das aber nicht. Sie ist ein Angriff auf alle anspruchsvolleren Bildungsgänge; denn anspruchsvolle Bildung braucht Zeit, und die wird ihr in Hamburg fehlen, wenn die schwarz-grünen Schulreformer mit ihren Plänen durchkommen.

Der Autor: Der Altphilologe Konrad Adam (67) war von 1979 bis 2000 Feuilleton-Redakteur der "FAZ" und bis 2007 politischer Chefkorrespondent der Tageszeitung "Die Welt". Er hat mehrere Bücher zum Thema Bildung verfasst, darunter: "Die deutsche Bildungsmisere. PISA und die Folgen", Propyläen 2002.