Der Verein “Werte erleben“ will Wedekinds “Frühlings Erwachen“ im Schauspielhaus auf die Bühne bringen.

Hamburg. Am Anfang sitzen sie noch ziemlich steif auf ihren Stühlen ganz hinten im Probenraum 6c auf Kampnagel. Junge und Alte, insgesamt 21 Menschen zwischen 11 und 83 Jahren. Sie wissen, nur wenige von ihnen werden es schaffen, bei diesem Casting der besonderen Art. Vorn steht Daniel Wahl (43) und stellt klar: "Wir sind hier nicht bei 'Dieter Bohlen sucht den Superstar'. Es geht darum, dass ihr etwas für euren Lebensweg erfahrt." Der Mann ist Schweizer, Schauspieler, Regisseur und seit vier Jahren am Deutschen Schauspielhaus. Ein Profi, Experte für die Tiefen menschlichen Fühlens und Handelns. Jetzt schaut er in eine Reihe aufgeregter Gesichter. Nicht nur, dass er alle duzt. Es geht auch gleich um das Thema Sexualität. Mandy (13) kichert nervös. Helga (83) verzieht leicht die Miene.

Es ist die erste von insgesamt vier Kandidatenschauen für ein ungewöhnliches Projekt: Theatermann Wahl will das Pubertätsdrama "Frühlings Erwachen" von Frank Wedekind (1864-1918) inszenieren - und zwar ausschließlich mit Schülern und Senioren. Die Kooperation zwischen Schauspielhaus und dem Verein "Werte erleben" soll den Dialog der Generationen fördern, aus dem Nebeneinander ein Miteinander machen. Bereits vor drei Jahren hatten sie mit der Produktion des Stücks "Herr der Fliegen" großen Erfolg. Am 31. August 2010 will das Schauspielhaus mit der Premiere des Dramas die nächste Spielzeit eröffnen. Sophia (13) aus Bergstedt ist eine derjenigen, die auf die ganz große Bühne wollen. "Ich möchte Schauspielerin werden", sagt die Schülerin am Gymnasium Ohlstedt. Neben ihr sitzt ihre Cousine Marie (13) von der Gesamtschule Walddörfer. Das Stück habe sie sich schon mal angeschaut, sagt die Achtklässlerin. "Das ist interessant." Auf die Frage nach den Werten, um die es beim Gemeinschaftsprojekt ja auch gehen soll, zuckt sie ein bisschen ratlos die Schultern. "Gemeint sind Dinge wie Hilfsbereitschaft, Wahrheit, Treue", hilft ihr Helga. Ihren Nachnamen will die Wahlhamburgerin aus einer Seniorenresidenz in Blankenese lieber nicht nennen. "Ich weiß ja gar nicht, was mich hier erwartet." Grundsätzlich finde sie aber die Idee gut, miteinander ins Gespräch zu kommen. Nur dass sie auf dem Anmeldebogen ihre Hosengröße angeben sollte, irritierte sie dann doch. "Ich trage niemals Hosen." Im Probenraum verliert Regisseur Wahl, der auch die Bühnenfassung bearbeitet hat, keine Zeit. An diesen und dem nächsten Wochenende will er insgesamt 200 Bewerber sichten, 40 werden ausgewählt. Nach einigen Lockerungsübungen lässt er die ersten Anwärter im Rhythmus klatschen, schickt sie mal schnell, mal langsam durch den Raum. Einige Senioren steigen aus - zu anstrengend. Als sie dann von ihrem ersten Kuss erzählen sollen, bleiben eher die Jungen stumm. Und dann müssen sie noch in die Kamera sagen, warum sie mitmachen wollen bei dem Theaterprojekt, von dem Wahl keinen Zweifel lässt, dass "man es wirklich wollen muss, um durchzuhalten".

Nach knapp zwei Stunden bleiben auf dem Tisch die Bewerbungsbogen mit 21 Gesichtern auf Polaroid zurück.

Infos: www.werteerleben.de