Alle meine Mitschüler waren Pioniere, nur ich nicht. Für den Sohn eines Pastors kam das nicht infrage. Also gab es für mich kein Pionierhalstuch, keinen Pionierausweis und keine Pioniernachmittage.

Anfangs fand ich das traurig, hätte gern dazugehört. Aber schon bald merkte ich, dass Pionierhalstücher - heute würde man sagen - uncool und Pioniernachmittage langweilig waren. An den Mittwochnachmittagen, wenn die Pioniere aus meiner Klasse ihr Halstuch umbinden und für den Weltfrieden kämpfen mussten, konnte ich ins Kino gehen und mir dänische Krimis mit der Olsenbande ansehen. Deren Chef Egon hatte immer prima Ideen, die aber stets schiefgingen, sodass er am Ende wieder im Gefängnis landete.

Meine Mitschüler mit Pionierhalstuch mussten nicht nur für den Weltfrieden kämpfen, sondern häufig auch für die Freilassung von Freiheitskämpfern, die irgendwo im Westen eingekerkert waren. Dann schrieben sie "Wandzeitungen", auf denen sie zum Beispiel den US-Präsidenten aufforderten, die schwarze Bürgerrechtlerin Angela Davis umgehend freizulassen. Wie das funktionieren sollte, war keinem so richtig klar, denn der amerikanische Präsident konnte unsere Wandzeitung gar nicht lesen, da er sich grundsätzlich nicht in der 59. Polytechnischen Oberschule in Dresden aufhielt. Deshalb blieb Angela Davis ziemlich lange in Haft. Auch andere Wandzeitungsschlagzeilen wie "Freiheit für Mikis Theodorakis" oder "Freiheit für Luis Corvalán" (den chilenischen KP-Chef) blieben lange Zeit folgenlos.

Eines Tages beteiligte ich mich ausnahmsweise an einer Pionierwandzeitung, allerdings konspirativ und illegal: Vor Unterrichtsbeginn, als das Klassenzimmer noch leer war, heftete ich eine zu Hause fabrizierte Schlagzeile quer über die Wandzeitung. Aufschrift: "Freiheit für Egon Olsen!" Meine Klassenkameraden, allesamt Fans des dänischen Chef-Gangsters, waren begeistert, nie zuvor hatten sich so viele Schüler um eine Wandzeitung gedrängt.

Als Frau Braunreuther, unsere Staatsbürgerkundelehrerin, die Schlagzeile las, wurde sie allerdings blass. Das sei verleumderisch und hätte böse Folgen, drohte sie, daher solle sich der Übeltäter sofort melden. Da ich das für taktisch unklug hielt, schwieg ich lieber, und außer mir wusste es ja niemand. "Dann müssen eben alle eine Stunde nachsitzen", sagte die Lehrerin, doch auch das änderte nichts. Nach einiger Zeit meldete ich mich und sagte: "Frau Braunreuther, Lenin hat gesagt, Kollektivstrafen seien unsozialistisch." Daraufhin entfernte sie die Schlagzeile und ließ die Angelegenheit auf sich beruhen Ob Lenin das wirklich gesagt hatte, wusste ich nicht. Frau Braunreuther aber auch nicht.

An dieser Stelle erinnern sich Abendblatt-Redakteure regelmäßig an beeindruckende Erlebnisse in ihrer Schulzeit.

Matthias Gretzschel, Kultur & Medien, besuchte von 1964 bis 1974 die 59. Polytechnische Oberschule in Dresden-Weißer Hirsch.