Es ist ein Tabuthema: Jugendliche ritzen sich, um ihren Seelenkummer zu verdrängen. Das kann zur Sucht werden. Sie brauchen dringend Hilfe

Vor rund vier Jahren wurde ich süchtig. Ich war süchtig nach dem Ritzen oder auch Cutten, wie es umgangssprachlich heißt. Offiziell heißt das Selbstverletzendes Verhalten (SVV).

Der Tod meines geliebten Stiefvaters trieb mich in die Sucht, glaube ich. Ich konnte mit dem Verlust nicht umgehen und habe versucht, meinen seelischen Kummer mit dem Schneiden in die Haut zu verdrängen. In den ersten Monaten zierten nur dünne leichte Striemen meine Arme und Beine, mit der Zeit wurden die Schnitte immer tiefer. Manchmal drückte ich auch Zigaretten auf meiner Haut aus, um Schmerz zu spüren, um zu vergessen.

In der Schule wussten fast alle, dass ich mich geritzt habe, doch keiner half mir, alle sahen weg. Zu Hause wusste niemand davon.

An einem Tag ging es mir sehr schlecht. Ich kam überhaupt nicht mehr klar und schnitt wieder, mit der "geliebten" Klinge in die Haut. Die Klinge glitt immer tiefer in den Arm hinein. Ich biss in meinen Teddybären, um vor Schmerz nicht laut aufzuschreien. Ich schnitt weiter, jedoch viel zu tief, über vier Stunden blutete es intensiv. Ich war dem Tod noch nie so nahe und trotzdem habe ich mich nie lebendiger gefühlt. Nach einer Weile bekam ich Panik, ich hatte so viel Blut verloren und ich wollte nicht sterben. Suizid war nie meine Absicht gewesen. Als die Blutung endlich aufhörte, war ich verzweifelt. Mir wurde mit einem Mal bewusst, dass das so nicht weitergehen konnte, ich wollte mein Leben nicht beenden.

Meine beste Freundin half mir, aus dieser Sucht rauszukommen. Sie war die Einzige, die für mich da war, und ich bin ihr unendlich dankbar für alles.

Seit sechs Monaten habe ich die Klinge nun nicht mehr angerührt. Es ist schwer standzuhalten, stark zu bleiben und nicht wieder mit dem Ritzen anzufangen. Aber ich weiß, dass ich das schaffen werde, auch wenn noch ein langer Weg vor mir liegt.

Was mich traurig macht, wenn ich in die Vergangenheit blicke, ist, dass alle bis auf meine beste Freundin weggesehen haben, anstatt zu helfen. Hätte mir von Anfang an jemand geholfen, wäre ich vielleicht gar nicht so in die Sucht abgerutscht. Hilfe ist so wichtig! Ich musste mir viele Beleidigungen anhören, von Unwissenden, die nicht verstehen konnten, wie ernst dieses Thema ist. Kommentare wie: "Geh in die Ecke und schneid dir deine Scheiß-Pulsadern auf !" , habe ich oft zu hören bekommen. SVV ist ein Thema, das in unserer angeblich so aufgeklärten Gesellschaft totgeschwiegen wird. Den Leuten muss geholfen werden, bitte sehen Sie nicht weg!

Ursachen für Selbtstverletzendes Verhalten vor allem im Jugendalter sind u. a. Depressionen, Selbstwertprobleme, Mobbing. Mädchen sind doppelt so häufig betroffen wie Jungs. Hilfe gibt es u. a. bei www.rotetraenen.de (Selbsthilfe) www.rotelinien.de (für Angehörige) Kummertelefon f. Jugendliche: 0800-1110333 (gebührenfrei, Mo-Fr 14-19 Uhr)