Migration bietet viele Möglichkeiten, aber dafür muss man Vertrautes aufgeben. Eine Schülerin berichtet über ihre Auswanderung aus Lettland.

Stellen Sie sich vor, dass Sie Ihr Land, in dem Sie geboren sind, verlassen müssen. Von Ihren Freunden, die Sie schon Ihr ganzes Leben kennen, müssen Sie sich verabschieden, genauso wie von allem anderen, was Sie kennen. Stellen Sie sich vor, dass jedes einzelne Ding im Ihrem Leben, das Ihnen so lieb und so bekannt war wie die Geschäfte, die Landschaft und sogar einfache Produkte, die Sie im Supermarkt kaufen, fort ist und Sie jetzt an einem Ort leben, wo alles fremd und manchmal sogar falsch erscheint.

Ich kenne das Gefühl und weiß, dass es nicht so schön ist. Ich bin selber eine Ausländerin, und wenn ich meinen Mitschülern oder meinen Lehrern sagen würde, dass ich früher in Lettland als Mensch total verantwortungslos war und nie für die Schule gelernt habe, würde niemand mir glauben. Denn hier lerne ich sehr viel, ich werde überwiegend Einsen im Zeugnis haben, und ich habe mich in Deutschland gut integriert. Zumindest äußerlich.

Doch war ich einmal anders, bevor ich von Lettland nach Irland und danach nach Deutschland ausgewandert bin. Das Auswandern verändert den Menschen - und nicht immer wie bei mir positiv. Ich keine will Ausreden finden oder weitere gute oder schlechte Beispiele der Integration aufzeigen, sondern versuchen zu erklären, was das Auswandern mit den Menschen macht und warum wir so sind, wie wir sind.

Ich bin schon seit zwei Jahren in Deutschland, aber das Gefühl, als ich nach Deutschland gekommen bin, werde ich nie vergessen. Du kommst in ein neues Land und was macht man als Erstes? Du besichtigst die wichtigsten Sehenswürdigkeiten, genauso wie im Urlaub, aber irgendwann wird dir klar, dass es für immer ist und dass du dir hier ein neues Leben aufbauen musst.

Ein Bekannter von mir, John (Name verändert), hat das ganz treffend formuliert: "Du hast keine Familie, niemand kümmert sich um dich. Du muss alles selbst machen", sagt der 18-Jährige, der von der Elfenbeinküste nach Hamburg gekommen war.

Sebastian (Name verändert), der 17 Jahre alt ist und aus der Dominikanischen Republik kommt, fügt hinzu: "Sonst hast du keine andere Chance." Ich glaube, das sagt viel.

Am Anfang wird einem die Stadt gezeigt, doch danach beginnt das reale Leben. Die Eltern arbeiten jeden Tag und viele können sich nicht um die Kinder kümmern. Sie sind keine schlechten Eltern. Sie haben einfach keine Wahl, wenn sie ihren Kindern ein besseres Leben ermöglichen wollen. Einige Jugendliche werden dadurch verantwortungsbewusster, weil sie sich um sich selbst kümmern müssen. Sie sehen keine andere Chance im Leben für sich als in einer guten Ausbildung. Deswegen sind sie zielstrebiger und fleißiger als früher. Das sagt auch Sebastian, der früher nie Hausaufgaben gemacht hat.

Leider schaffen es nicht viele, so konsequent für ihre Zukunft zu arbeiten. Solche Fälle habe ich in Irland gesehen. Die Eltern können nicht auf die Kinder aufpassen und es gibt auch keine anderen Verwandten, die nach ihnen gucken können. Dadurch bekommen sie den Eindruck, dass sie alles machen können, was sie wollen. Sie gehen auf Partys, trinken Alkohol und manche nehmen Drogen. Das ausschweifende Partyleben ist oft bedingt durch die Sehnsucht nach Freunden. Als der Vater von John nach Deutschland gekommen war, hatte er nichts, keine Freunde, keine Frau, keine Arbeitserlaubnis. So ist er, ein älterer Mann, in die Disco gegangen, um eine Frau und Freunde zu suchen.

Leider sind nicht alle Jugendlichen fähig, aus dieser Party-Szene auszusteigen, wenn sie ihr Ziel erreicht haben. Es scheint zwei Wege für Migranten zu geben: Man steigt hinauf oder man fällt tief in der Gesellschaft.

So geht es einer lettischen Bekannten von mir. Sie war in Lettland eine Musterschülerin, hier scheint es mir, dass sie mit jedem Treffen tiefer und tiefer in der Party-Szene versinkt.

Dennoch, eigentlich strebt doch jeder Mitgrant nach einem besseren Leben in Deutschland, weil das doch der Grunde war, warum er alles, was ihm lieb und bekannt war, verlassen hat. Man will dazugehören, integriert sein. Für die meisten Leute scheine ich ein gutes Bespiel für Integration zu sein, obwohl ich selbst denke, dass ich mich nie in Deutschland wirklich heimisch fühlen werde.

Denn egal wie gut ich mich in Deutschland integriere und wie gut meine Noten sein werden, und auch wenn ich in zehn Jahren ohne Akzent rede, werde ich trotzdem immer das Mädchen mit dem komischen Namen Lelde aus Lettland sein.