Amor S. ist wegen des Neuwiedenthaler Gewaltexzesses angeklagt. Das Gericht zweifelt jedoch an der Aussage des Belastungszeugen.

Hamburg. Von wegen kurzen Prozess machen. Seit mehr als 30 Verhandlungstagen stehen zwei Angeklagte vor dem Landgericht, die in Neuwiedenthal aus einem Mob junger Männer heraus auf zwei Polizisten losgegangen sein sollen. Die Verhandlung - geprägt von Befangenheitsanträgen und hitzigen Scharmützeln zwischen Verteidiger Uwe Maeffert und Nebenklagevertreter Andreas Karow - scheint kein Ende zu nehmen. Doch kurz vor dem Jahrestag des Gewaltexzesses bahnt sich jetzt eine sensationelle Wende an: Viel spricht dafür, dass der Hauptangeklagte Amor S. freigesprochen wird.

Weil das Gericht in der entscheidenden Prozessphase keinen "dringenden Tatverdacht" mehr gegen Amor S. sieht, hob es den Haftbefehl gestern auf. Bereits im Februar hatte die Kammer den 32-Jährigen von der U-Haft verschont. Seither musste er sich einmal wöchentlich bei der Polizei melden - diese Auflage fällt jetzt weg.

Neuwiedenthal, 26. Juni 2010: Am S-Bahnhof nehmen zwei Polizisten einen "Wildpinkler" in Gewahrsam. Als sich Mattheus W., 27, widersetzt, wenden die Beamten Gewalt an. Immer mehr junge Leute scharen sich um die Polizisten, plötzlich kippt die Stimmung, der Mob brüllt Schmäh-Parolen, schmeißt Flaschen und Steine, einige prügeln auf die Polizisten ein. Amor S. soll dabei dem Beamten Günther J. im Lauf mit voller Wucht ins Gesicht getreten haben. Der Mann erlitt mehrere Schädelbrüche und wäre fast erblindet. Avni A., 25, soll einem weiteren Beamten in den Rücken gesprungen sein. Traurige Bilanz: 17 festgenommene Verdächtige zwischen 17 und 32 Jahren, fünf verletzte Beamte. Die beiden Männer müssen sich seit Mitte Dezember wegen gefährlicher Körperverletzung verantworten. Amor S. ist achtmal einschlägig vorbestraft, zudem soll der einstige Anführer der Jugendgang Die Stubbenhofer 1997 einen damals 17 Jahre alten Lehrling erpresst und in den Selbstmord getrieben haben.

Bislang schwieg der hagere Angeklagte zu den Vorwürfen. "Nach vorläufiger Bewertung gibt es Zweifel, ob der Angeklagte Amor S. den Beamten J. verletzt hat", sagte die Richterin gestern. Der Einschätzung liegt vor allem die Aussage des einzigen Belastungszeugen zugrunde, des Zivilfahnders Jörg S. Er allein will den Fußtritt des 32-Jährigen gesehen haben. Der Polizist hatte bei seiner Vernehmung Fragen der Verteidigung nicht zugelassen und sich auf sein umfassendes Aussageverweigerungsrecht berufen, da gegen ihn ein Verfahren wegen Körperverletzung anhängig ist - Jörg S. soll den "Wildpinkler" während der Randale in einem Streifenwagen geschlagen haben. "Aus diesem Grund waren wir gezwungen, die Glaubwürdigkeitsprüfung bei diesem Zeugen noch intensiver zu gestalten", so das Gericht. Dieser Prüfung halte die Aussage von Jörg S. nicht stand. Die Konstellation ähnele einer klassischen "Aussage-gegen-Aussage-Situation". Zudem rügte das Gericht die "Identifizierungsleistung" und sprach von "Schwächen in der Aussagekonstanz" des Beamten, der widersprüchliche Angaben zur Tat und den Tätern gemacht habe. Andere Zeugen entlasteten Amor S., der vor und während des Tumults "de-eskalierend" aufgetreten sei.

Die Haftentscheidung bestätige die Freispruch-Strategie der Verteidigung, sagte Uwe Maeffert. "Etwas anderes als einen Freispruch kann ich mir jetzt nicht mehr vorstellen." Die Anwälte der verletzten Polizisten, Andreas Karow und Walter Wellinghausen, sprachen indes von einem "falschen Beschluss", jedoch habe das Gericht erkennen lassen, wie es die Beweise würdige. "Insofern war es ein guter Tag", sagte Wellinghausen. Er kündigte weitere Beweisanträge an. Sollte Amor S. freigesprochen werden, "wird das Urteil einer Revision nicht standhalten".